Findet Akademische Reitkunst nicht im Gelände statt? Offenbar gibt es eine Mär vom Reiter, der sich für die Akademische Reitkunst begeistert und ausschließlich über Gymnastizierung auf feinem Sandboden nachdenkt. Oder ist doch alles ganz anderes?
„Ihr bewegt euch ja nur im Sandkasten fort“. Die Kritik war offensichtlich. Nun müssen Dressurreiter im Allgemeinen den Vorwurf entkräften, man bewege das Pferd ausschließlich auf 40 oder 60 Mal 20 Metern. Tagaus, tagein. Der Akademischen Reitkunst wird gerne vorgeworfen im Stehen über den Schritt, im Schritt über den Trab und im Trab über den Galopp nachzudenken.

Kritiker meinen dann sogar, es bleibt häufig beim Denken.
Aus meiner eigenen täglichen Praxis kann ich nur bestätigen, dass sich eine gewisse Leidenschaft fürs Tüfteln entwickelt. Allerdings sollte nicht nur die grauen Zellen in Bewegung kommen.
Reiten wie damals
Wovon träumten wir als Kinder? Als ich meine ersten Reitversuche auf großartigen Trakehnerpferden absolvierte, war mir die Notwendigkeit von Sitzübungen durchaus bewusst. Auch ich habe mich mit meinen sechs Jahren wesentlich wohler gefühlt, wenn ich Einfluss nehmen konnte auf „Gas, Bremse und Lenkung“. Sobald ich dies erreicht hatte, träumte ich jedoch vom Galopp im Gelände. Von Abenteuern mit den Pferden.
Meine beste Freundin Kati und ich waren damals unendlich viele Stunden mit den Pferden unterwegs. Unvergesslich sind die Ritte im Pulverschnee auf „Sturm Kreuz“. Der verschneite Waldweg lag unberührt in Serpentinen vor uns. Es ging leicht bergauf. Perfekt für einen beherzten Galopp. Ich glaube, DAS sind die großartigsten Erinnerungen meiner Reiterei, die ich mit Sicherheit nicht vergessen werde.
Damals habe ich mir keine Gedanken gemacht, welche Muskelketten miteinander arbeiten. Ich habe hauptsächlich auf mein Gefühl gehört und die Freude des Pferdes an der Bewegung genossen.
Meinen ersten eigenen Trakehner habe ich fast aussschließlich im Gelände angeritten. Wir hatten am Stall eine großartige Galoppbahn, mein Vater ritt mit seinem Schimmel vorneweg, so konnte sich mein „Wiesenkobold“ an Schimmel „Felix“ orientieren und lernte Schritt für Schritt – oder Runde um Runde die Hilfen zum Antraben, durchparieren, angaloppieren usw. Früher wurde also definitiv mehr „draußen“ ausgebildet, als heute.
Das mag eben mit dem Wissen und der dadurch bedingten Vorsicht und Achtung gegenüber dem Pferdekörper zusammen hängen.
Vorsichtig sein
Erst jüngst habe ich wieder einen Denkanstoß durch eine Leserin per Mail erhalten.
Sie schilderte mir die Fortschritte mit ihrem Pferd. Im Viereck oder in der Halle würde sich das Pferd bereits recht gut tragen, es verinnerlicht bereits wie es sich gesund für sich selbst bewegen kann. Im Gelände jedoch falle es gerne in alte Muster zurück – wie bloß solle man denn im Gelände reiten, ohne den Pferdekörper in Mitleidenschaft zu ziehen.
Bei Fragen suche ich immer gerne nach bildhaften Beispielen aus der Praxis und natürlich ist mir hier auch die Geschichte unseres eigenen Pferdes eingefallen.
Pina hatte im Jahr 2013 und 2014 einige Koliken. Einmal war es so heftig, dass wir sie in die Pferdeklinik bringen mussten. Ein Diätplan wurde ausgeklügelt. Bevor ich über unseren Trainingsplan erzähle, möchte ich auch noch mal betonen, dass sich Pinas Beschwerden durch einen Stallwechsel bis dato („ich klopfe auf Holz“) stark verbessert haben, ja es gab keinen Rückfall. Für Pina hat sich vor allem geändert, dass sie tatsächlich 24 Stunden Zugang zu Heu hat.

Nach ihrem Klinikaufenthalt im Winter 2013 hatte sie jedoch stark abgenommen. Unfallbedingt hat Pina, soweit ich das rekonstruieren konnte, einen massiven Beckenschiefstand, gebrochene Schweifwirbel und einen vermuteten Beckenbruch als ganz junges Pferd davon getragen. Die gebrochenen Schweifwirbel sind noch heute tastbar. Wenn man hinter Pina steht, kann man deutlich wahrnehmen, dass das Sakrum nach rechts hängt.
Pina verhält sich beim Training trotz aller Handicaps mustergültig. Wird ihr etwas zu schwer, bzw. verkrampft sie zwischen Brustbein, Zungenbein und Genick, dann zeigt sich das durch hektische Bewegungen mit der Zunge. Da Genick und Hüfte miteinander korrespondieren, zeigt sie uns so auch ihre Grenzen, was sehr gut ist, denn eigentlich würde PIna ihre Grenzen gerne mehr als ausloten und ständig für uns über sich hinaus wachsen. Sie ist sich stets unsicher, ob sie alles richtig macht und genügt. Und natürlich kann sie gar keinen Fehler machen, schließlich ist Pinchen für uns perfekt!
Die Klinikaufenthalte haben jedenfalls ordentlich Muskelmasse gekostet. Trinkt Pina im Winter zu wenig, da ihr die beheizte Tränke suspekt ist, dann wirkt die gesamte Oberlinie sofort wie ausgesaugt. So sah sie auch nach den Koliken aus.
Ein Reha Plan für Pina
Pina zeigte sich im Rücken speziell im Übergang hintere Brustwirbelsäule-Lende-Kreuz recht empfindlich. Von hinten betrachtet war die Muskulatur an den Sitzbeinhöckern fest und verspannt. Die Schultern waren übermässig belastet. Pina zeigte typische Anzeichen einer Trageerschöpfung oder Trageschwäche, wie man heute so sagt.
Für Pina bedeutete dies beinahe tägliche Gymnastik am Boden. Wir haben longiert und viel an der Balance gearbeitet. Die Arbeit im Stand und das Spiel mit den Paraden sollte die Wahrnehmung des eigenen Körpers sowie der Balance verbessern. Durch die Gewichtsverlagerungen in Richtung Hinterhand wurde die tiefe Muskulatur entlang der Wirbelsäule animiert „zuzuhören“. Mehr Gewicht in Richtung Hinterhand zu verlagern, das bedeutete auch eine verbesserte Wahrnehmung der Hinterhand. Das „Schaukeln“ der Wirbelsäule durch sanfte Massage am Hals lockerte den gesamten Körper.

Schulterherein und Kruppeherein, also Übergänge zwischen versalen und traversalen Schwungrichtungen gehörten ebenso zum täglichen Programm. Beim Longieren wollte Pina am liebsten mit der Nase durch den Sand pflügen. Es fiel ihr deutlich schwer sich aufzurichten. Den Brustkorb aus eigener Kraft zu tragen.
Und mit der Zeit wurde alles besser. Täglich bekam Pina mehr Kraft und Ausdauer. Der Maßsattel passte damals nicht mehr. Sobald wieder ans Reiten zu denken war, habe ich einen Fellsattel eigens für Pina bestellt. Und so komme ich zum eigentlichen Thema zurück – nämlich zur Frage nach den Geländeritten.
Ab ins Gelände
Mit meinem Vater oder auch mit mir – wobei wir Tabby mitgenommen haben und dann zu dritt oder eben zu viert unterwegs waren – waren wir stundenlang im Gelände. Anfangs noch wohl dosiert und einiges auch gut zu Fuß unterwegs.
Wie reitest du im Gelände?
Ob ich im Gelände tatsächlich reite oder lieber führe, passe ich den physischen und mentalen Begebenheiten meines Pferdes an. Mein Youngster Konrad war im Spätsommer 2019 scheinbar so weit, dass ich mich für einen Ausritt in den Sattel schwingen konnte. Eben scheinbar. Davor gab es durchaus ruhige und gelassene Ritte, mit Beginn der Pubertät war er jedoch eher unsicher, daher bin ich gerne wieder zu Fuß unterwegs gewesen und konnte Konrad die notwendige Ruhe vermitteln.
Im Fall von Pina gab es beim damaligen Stall eine Wiese, die bergauf, bergab zum Konditionstraining einlud. Das haben wir genutzt und danach alsbald die Möglichkeiten zum Klettern.
Und wie sind wir im Gelände geritten? Habe ich auf Formgebung usw. geachtet? Bedingt ja. Ich habe immer wieder mal die Zügel aufgenommen und überprüft, ob Pina zur Hand hin sucht, ob das Hinterbein gut unter die Masse schwingt, ob Pina schief wird, ob sie die linke Schulter übermässig belastet. Die meiste Zeit aber habe ich die Zügel lang gelassen und Pina auch mal machen lassen.

Ich denke es ist ganz wichtig eine Balance zwischen kontrollierter Bewegung und Bewegung „ohne Stützräder“ zu suchen. Was meine ich mit Stützrad? Nun, in der akademischen, fein detaillierten Arbeit kann es schon vorkommen, dass man sich an Kleinigkeiten verzettelt. Die Balance soll ja immer besser werden, das Gefühl soll mit Wunsch und Wirklichkeit übereinstimmen. Im Gelände jedoch nehme ich die „Stützräder“ ab. Das ist auch ganz wichtig für das mentale Selbstbewusstsein und schult dazu die Propriozeption. Propriozpetion bedeutet im Grunde die Trittsicherheit des Pferdes zu fördern – und das bedeutet im Klartext Nervenzellen schulen, damit sie Sekundenschnell auf verschiedene Untergründe reagieren können und den Gelenken mitteilen können, wie sie sich zueinander verhalten sollen.
„Wie wir wissen sind es die gleichen Muskelgruppen, denen die Hankenbiegung und die Schubkraft obliegt, Daraus erklärt sich die Erfahrung, dass der Wechsel zwischen Reitbahn- und Geländereiten mit Klettern für die Entwicklung der Hinterhand am förderlichsten ist. Beides ergänzt sich; das eine ist Geschicklichkeitsübung, das andere Kraftsport für die Pferde. Beides ist notwendig“.
Udo Bürger, Der Reiter formt das Pferd
In Punkto Schubkraft sind zwei Punkte ganz wichtig. Mehrere große Reitmeister betonten unisono, dass die Gehlust des Pferdes am ehesten im Gelände zu fördern ist. Wir Reiter von heute sind so darauf kapriziert, die Schubkraft zu beherrschen, dass wir sie am liebsten gänzlich abwürgen. Nur langsam bedeutet nicht gleich versammelt.

„Zunächst handelt es sich nun darum, die Schubkraft und damit die Gehlust des Pferdes in seiner ganz natürlichen Richtung zu entwickeln. Jedes rohe Pferd wird unter dem Reiter verhaltener und gebundener treten als an der Hand, weil die Freiheit seiner Bewegungen durch das Tragen der Reiterlast und die dadurch hervorgerufene ungewohnte Berührung mehr oder weniger eingeschränkt wird“.
Gustav Steinbrecht, Das Gymnasium des Pferdes
Daher ist mir die Bewegung im Gelände für junge Pferde auch sehr wichtig.
Freude an der Bewegung ist das oberste Gut
Und abschließend sei gesagt – bei aller Vorsicht und Achtsamkeit in Punkto Gymnastizierung, vergessen wir nicht, warum wir eine schöne Zeit mit dem Pferd im Gelände verbringen wollen:
„Wer nur zu seiner Freude reitet, aus Freude am Leben, aus Freude am Pferd, der ist ein König und ein Weiser. Er reitet, wenn das Herz froh in seiner Brust schlägt, er reitet, wenn ein Kummer drückt und er reitet in berstendem Glück neben der Geliebten. Er reitet bei Sonnenschein und Regen, er reitet im Morgengrauen, in der Abenddämmerung, auch in dunkler Nacht und er stürmt jauchzend gegen die Gewalt des Herbststurmes, Sein sicheres und verständiges Pferd ist sein bester Freund. Ihm schenkt er sein ganzes Vertrauen und tief empfundenen Dank“.
Udo Bürger
Auch für das Pferd sind die Stunden im Gelände unheimlich wertvoll. Und nein, es wird nicht die Welt untergehen, wenn wir nicht jeden Schritt für das Pferd managen müssen. Wäre dies tatsächlich der Fall, dann ist das Pferd in Punkto Ausbildung einfach noch nicht bereit fürs Gelände. In diesem Fall verbessern Spaziergänge zu Fuß euer beider Kondition, Balance, Propriozeption und Seelenheil.
Der Frühling steht bald vor der Türe – also ab ins Gelände!
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Schöner Beitrag, liebe Anna. Genauso sehe ich das auch und so trainiere ich. Im Viereck gymnastizieren wir, trainieren Versammlung, Aufrichtung und die Hinterhand. Und im Gelände schreitet er am langem Zügel aus dem ganzen Körper und legt einen Trab hin, bei dem andere galoppieren, freiwillig und aus Spaß am der Bewegung. Dabei sind die Ohren immer vorne, er registriert mit Neugierde alles um ihn herum – was er auch darf. So habe ich ein motiviertes, vertrauensvolles Pferd, das riesengroßen Spaß macht