System, Skala oder Leitlinien. Wie sinnvoll ist eine Systematisierung der Ausbildung. Folgten die Alten Meister einem Schema F? Und wie würden Antoine de Pluvinel (1555-1620), François Robichon de la Guérinière (1688-1751) und Gustav Steinbrecht (1808-1885) heute über die Skala der Ausbildung urteilen, die ja erst 1950 erstmals erwähnt wurde? Für die Ausgabe Nummer 13 der „Feinen Hilfen“ habe ich die Alten Meister zu diesem Thema befragt.
Moderator: Herr Steinbrecht, die Skala der Ausbildung enthält nach Definition der FN folgende Punkte: Takt, Losgelassenheit, Anlehnung, Schwung, Geraderichtung und Versammlung. Finden Sie Ihr Werk „Das Gymnasium des Pferdes“ in der heutigen Definition darin wieder?
Steinbrecht: Nur wenn es das Ziel ist, ein Pferd zu schulen, damit es körperlich und psychisch ausbalanciert ist und über entsprechende Tragkraft verfügt. Bevor ich aber in meinem Werk auf die Ausbildung des Pferdes eingehe, musste ich mir über die Mittel einig werden, die dem Menschen bei dieser Aufgabe zu Gebote stehen. Ich meine damit nicht die äußeren Werkzeuge, wie Zaum, Sattel, Sporen und Peitsche, Longe oder Pilaren, sondern wie der Mensch bei der Ausbildung des Pferdes von seinem eigenen Körper macht und ausreichend Verständnis für die Natur des Pferdes, seinen Körperbau und über ausreichend eigene körperliche und geistige Fähigkeiten verfügt.
Guérinière: Richtig, denn nur der denkende Reiter, der sich und die anatomischen Gegebenheiten und Verhaltensmuster des Pferdes kennt und für die praktische Arbeit zu nutzen versteht, wird sich eine logische Vorgehensweise erarbeiten können.
Pluvinel: Ich glaube ich weiß, worauf Sie, Herr Steinbrecht hinausmöchten. Ich gehe ganz konform mit Ihnen, wenn ich sage, dass es nicht möglich ist, Reiter und Pferd gleichzeitig auszubilden. Zuerst möchte ich den Reiter ausbilden.
Moderator: Und wie beginnt also diese systematische Ausbildung?
Guérinière: Beim Menschen. Ein Großteil der Reiter hat nur eine unklare Vorstellung von den Bewegungen der Pferdebeine in den verschiedenen Gangarten. Wenn es darum geht, wie Herr Steinbrecht so vortrefflich formuliert hat – nämlich vorwärts zu reiten und gerade zu richten, dann geht dies doch nicht ohne die genaue Kenntnisse um die Schnellkräfte, deren Funktion der Reiter oft nicht versteht oder gar nicht kennt.
Steinbrecht: Ja, ich höre immer wieder aktuell von einer ausgezeichneten Schubkraft. Ich sehe aber, dass der Rückschub, also das nach hinten hinausschiebende Bein, dominiert und die Tragkraft und die Stärkung der Hinterbeine vernachlässigt werden. Ich meine in meinem Werk daher nicht das Vorwärtstreiben des Pferdes in möglichst eiligem und gestrecktem Gang, sondern vielmehr, dass der Reiter bei allen Übungen den Vorgriff der Hinterbeine in Tätigkeit zu halten hat. Ich wünsche mir einen denkenden Reiter, der Takt und Schwung studiert. Ich würde nicht den Takt, sondern Balance an erste Stelle setzen. Außerdem warne ich davor, Begriffe wie Schub und Schwung zu vermischen. Schwung ist die dreidimensionale Schwingung der Wirbelsäule.
Pluvinel: Wer zu meiner Zeit quer durch Europa beritten unterwegs war, hatte bereits diese Schwingungen im Schritt, Trab und Galopp erfühlt und erweiterte dann den Gefühlssinn in allen Arten von Lektionen, auch durch die richtige und feine Anlehnung an die Hand und die dosirung der Hilfen. Es nützt nichts, wenn der Mensch eine Skala auswendig aufsagen kann. Das erachte ich als gebrauchsfremd, wenn der denkende Reiter das Gespürte nicht in sinnvolle Korrekturen umsetzen kann.
Moderator: Gehen wir also davon aus, dass der Reiter die korrekte Vorbildung mitbringt. Wie würden Sie ihre Ausbildung nun systematisch fortsetzen?
Pluvinel: Wir wissen, dass es früher wie heute dem Pferd besonders schwer fällt auf einem Kreis zu laufen. Gute Volten im Terre a Terre sind daher sehr selten geworden. Ich lasse das rohe Pferd also zuerst Bekanntschaft mit der Zirkellinie machen – zu meiner Zeit machte man das um einen Pilaren. Der Kopf soll dabei immer in die Mitte der Volte hinein zeigen. Das Pferd ist immer nach innen gestellt und nimmt somit auch die gute Gewohnheit an, auf dem vor ihm liegenden Hufschlag ein klein wenig nach innen zu schauen. Später wiederhole ich diese Übung im Trab.
Steinbrecht: Mein lieber Pluvinel, die Arbeit am Pilar verlangt solch reiterliches Taktgefühl, wie wir es heute schwer finden. Ich empfehle also die Arbeit an der Longe, um das rohe Pferd mit der Arbeit, Aufmerksamkeit und dem Gehorsam vertraut zu machen. Gleichzeitig lernt es dabei erste Biegsamkeit und Gewandheit, soweit es der Körperrichtung möglich ist.
Pluvinel: Hier würde ich noch als Empfehlung ergänzen, das Pferd nicht mehr auf der rechten, als auf der linken Hand zu arbeiten, wie mich die Großzahl der equinen Lehrmeister geschult hat. Fast alle Pferde gehen lieber auf der linken, als auf der rechten Hand herum.
Guérinière: Um aber auf Ihre ursprüngliche Frage zurück zu kommen: diese Skala nennt zwar einige Elemente unserer Arbeit, wobei wir einst – so mein Eindruck – weit mehr Augenmerk auf das Geraderichten und die Entwicklung der Tragkraft verwendeten. Zudem verwende ich an der Longe vorwiegend den Trab, um zu verhindern, dass stürmische Pferde durch den Galopp und faule Pferde nicht durch den Schritt in ihrer Neigung verstärkt werden. Der aber durch diese Arbeit kontrollierte Vorwärtsdrang stellt sicher, dass wir uns erlauben können die Ausbildung im ruhigen Schritt fortzusetzen. Der langsame motorische Ablauf im Schritt gewährleistet einen schonenden Aufbau des Bewegungsapparates. Das könnte man mit Takt und Losgelassenheit vergleichen, wobei ich die Formulierung der Balance ebenso vermisse.
Steinbrecht: Mein „Gymnasium“ fasst hier alle Übungen zusammen, die als elementar für die Geraderichtung genannt werden können: Biegung von Hals, Genick, Rückgrat, der Hinterschenkel, Biegung auf einem und auf zwei Hufschlägen. Dadurch kann die Anlehnung in einer natürlichen Haltung des Pferdes gewonnen werden.
Guérinière: Ich halte Schulterherein hier für die schwierigste, aber auch nützlichste gymnastizierende Übung, um die Schultern, auf denen der Großteil des Gewichts liegt frei zu machen.
Pluvinel: Weil ein Pferd, das sich durch zu viel Gewicht auf den Schultern nicht seitwärts bewegen lässt, auch nicht in der Lage sein wird, saubere Volten auszuführen. Erst durch die Seitengänge können wir das Pferd geraderichten. Das Erlernen des Gebrauchs von innerem und äußeren Zügel, sowie innerem und äußerem Schenkel zählt bei mir daher zu den Grundpfeilern der Ausbildung.
Moderator: Sie beschreiben unisono in ihren Werken zuerst die Ausbildung des Reiters, erst dann gehen Sie auf die Ausbildung der Pferde ein. Die Begriffe der heutigen Skala werden nicht als einzelne Kapitel erwähnt?
Guérinière: Erst der Reiter, dann das Pferd. So lautet meine „Skala“. Ich befürchte, dass die Skala hinderlich sein wird, wenn das Reiten von Lektionen vor den Inhalt gestellt wird.
Steinbrecht: So ist es. Das Gymnasium hat das Ziel, dem Reiter das Handwerk zu vermitteln, um die entsprechenden Übungen für die natürlichen Eigenschaften und Anlagen des jungen Pferdes zu wählen, ohne sich dabei ängstlich und pedantisch an eine bestimmte Ordnung zu binden.
Pluvinel: Mein Ziel ist identisch mit meiner Methode: Ich will die Beine und den Rücken des Pferdes schonen und Zeit einsparen. Ich konzentriere mich deshalb in erster Linie darauf, den Verstand des Pferdes und sein Gedächtnis auszubilden und damit dauerhaft das zu erreichen, was ich möchte. Auch der Reiter muss seinen Kopf arbeiten lassen, um sein Ziel zu erreichen. Es darf keine Möglichkeit geben, die er nicht kennt und nutzt. Diese Punkte gehen mir in vielen heutigen Formulierungen ab.
Moderator: Ich danke Ihnen für das Gespräch.
Fragen wir doch öfter die Alten Meister um Rat, dann Reiten wir Einfach 😉
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