Biotensegrität ist irgendwie in aller Munde. Vor ungefähr 20 Jahren startete in der Reiterei eine Bewegung rund um die Biomechanik. Alles sollte biomechanisch korrekt, biomechanisch nachvollziehbar sein. Wer sich mit den Bewegungen des Pferdes auseinander setzte, der hatte in Punkto Ausbildung schon gewonnen.
Seit einigen Jahren ist jedoch auch immer wieder von der so genannten Biotensegrität die Rede.
Der Begriff wurde maßgeblich geprägt vom amerikanischen Orthopäden Stephen M Levin. Er selbst bezeichnet Biotensegrität als kein einfaches Fach. Und je mehr man sich damit beschäftigt, umso eher hat man den Eindruck, vor allem biomechanische Mathe-Geeks beschäftigen sich damit.
Soweit mein erster Eindruck und damit schon mal Skepsis, schließlich war ich selbst alles andere als ein Mathe Geek.
Biotensegrität und Modelle
Wer sich mit Biotensegrität beschäftigt, kommt an den zahlreichen, architektonisch interessanten Objekten aus Hölzchen und Fäden nicht vorbei. Das unterstreicht aber auch die Essenz der Biotensegrität: Es geht primär um Spannungs- und Kompressionselemente. Was hier quasi nicht nur sprichwörtlich ausgehebelt wird, sind die biomechanischen Annahmen rund um Hebelgesetze.
Stellen wir uns also eine gewisse Aufrichtung vor – dass wir selbst aufrecht stehen können. Hier ist freilich sonst die Annahme, dass sich unsere Knochen primär gegen die Schwerkraft mit Hilfe der Muskeln und diverser Hebel organisieren müssen. Die Biotensegrität geht aber davon aus, dass die Muskulatur einen gewissen Tonus braucht, allerdings keine Spannung.
Wenn wir dies auf das Reiten und die Ausbildung von Pferden münzen, wird es besonders spannend, da wir hier ja auch gerne den Terminus einer positiven Spannung nutzen, diese jedoch in eine Verspannung mündet und sich daher nicht nur bildlich besser durch Tonisierung ersetzen lässt.
Was bedeutet das jetzt aber für unsere aufrechte Position? Negative Verspannung muss beseitigt werden, um eine gesunde Tonisierung zuzulassen. Dabei gehen Experten für Biotensegrität davon aus, dass sich der Körper als tensegrales System so organisier, dass einerseits Last verteilt wird, andererseits aber wenig Energie dafür verbraucht werden muss.
Biotensegrität und Mühelosigkeit
Denken wir an Schubkraft und Tragkraft – es geht also immer auch um Kräfte, die auf den Körper wirken. Wenn wir davon ausgehen, dass sich das tensegrale System gut selbst organisiert, um Lasten zu verteilen, dann können wir uns das am Besten am Beispiel eines Kletterers vorstellen. Ein Mann klettert ohne Seil einen Berg hinauf. An den Felsen hält er sich fest, bis her ausrutscht und seinen gesamten Körper über seine Hand, die den Felsvorsprung umklammert stabilisiert. Rein physikalisch – und sorry jetzt wird’s gruselig – müsste ja die Kraft überwiegen, der Arm aus dem Schultergelenk springen, weil er nicht die Kraft dazu hat, sich zu halten. Das tensegrale System organisiert sich jedoch dergestalt, dass es den Kräften besser Widerstand leisten kann, die auf Knochen und Muskulatur des Armes im Einzelnen einwirken.
Und hier kommt die Bedeutung von Sehnen und Bändern, aber ganz besonders von Faszien mit ins Spiel. Denn hier zeigt sich aus vielen Bewegungsstudien von Mensch und Tier ganz eindeutig: Faszien können ähnlich wie Muskulatur Energie speichern und freisetzen.
Biotensegrität wird somit zu einem System von Spannung und Tonisierung aller Elemente, die den Körper in Balance, Haltung und Bewegung bringen. Wird das biotensegrale System trainiert, dann wirkt sich das freilich positiv auf die Biegsamkeit, Stärke und gesamte Gesundheit des Systems aus.
Biotensegrität und Schmerz
Ganz spannend ist ja sowieso auch die Forschung hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen Biotensegrität, Schmerz und Faszien.
Wer Schmerz empfindet, begibt sich häufig auf Spurensuche (zumindest ist das ratsam, bevor einfach wahllos Schmerzmittel konsumiert werden).
An dieser Stelle darf ich meine eigene Leidensgeschichte erzählen. Schwerer Reitunfall im Jahr 1997, damals bin ich mit Pferd gestürzt und habe mir nachhaltig Schäden im Bereich des 11. und 12. Brustwirbels zugezogen. Röntgenologisch sind heute in diesem Bereich Protrusionen, also Vorwölbenden der Bandscheiben bekannt, ebenso gibt es einen Vorfall zwischen 5. Lendenwirbel und 1. Steißwirbel.
Wir finden hier also röntgenlogische Befunde, die freilich zu meinen Schmerzen passen. Lustigerweise gibt es auch ganz ähnliche röntgenlogische Befunde bei Menschen meines Alters, die allerdings keine Schmerzen berichten. Woran liegt das also? Was machen diese Menschen anders und sind wir hier was Schmerzen anbelangt alleine auf die Befunde der Knochen angewiesen oder ist da noch mehr?
Häufig besteht zwischen Schmerz und Bewegung ein kausaler Zusammenhang.
Wie sieht ein gesundes tensegrales System aus?
Denken wir wieder an unsere tensegralen Modelle. Es lohnt sich, ein solches Modell mal selbst in der Hand zu halten, denn man wird entdecken – wird ein Teil bewegt, dann bewegt sich jeder Teil. Gesunde, funktionale Tensegrität erlaubt also Bewegung allüberall. Und ist das tensegrale System gestört, dann können die Strukturen quasi nicht miteinander kommunizieren – der Flow ist unterbrochen. Wir können uns das auch so vorstellen, dass beispielsweise ein gezerrtes Handgelenk sich freilich auch auf die Bewegung der Finger, aber auch der darüber liegenden Strukturen – die Bewegung von Elle und Speiche – somit einem steifen Ellenbogen, Oberarm und Schulter auswirken kann.
Unser tensegrales System kann also jederzeit gestört werden – das kann durch Verklebung der Faszien freilich passieren, wie aber auch durch Blockaden, Verletzungen etc.
Faszien haben hier freilich eine besondere Bedeutung – nicht umsonst ist Faszientraining, Faszienmassage, Faszientechnik in aller Munde – und nicht nur, wenn es um die Reiterei geht.
Es lohnt sich jedenfalls Biotensegrität zu erforschen. Auch wenn aller Anfang schwer ist und man vermutlich zunächst mal einige, schwer verdauliche Kost literarischer Hinsicht findet. Aber das sollte nicht abschrecken 🙂
Und weil man kleine Happen meist besser verdaut, gibt es auch hier eine garantierte Fortsetzung
Biotensegrität – Biomechanik zur weiteren Recherche
Blogbeitrag: RIP Herbert – Wie kann man Pferde abseits des Trainings dem jeweiligen Muskeltyp entsprechend unterstützen?
Blogbeitrag: Effizientes Muskeltraining
Blogbeitrag: Faszien und Alte Meister
Liebe Anna,
toll, dass du das Thema Biotensegrität aufgreifst!
In dem Zusammenhang heisst es, dass das „ unter den Schwerpunkt treten“ und Absenken der Kruppe zu einem Öffnen des Lumbosakrl- Gelenks führt, was pathologisch angesehen wird.
Was sind deine Gedanken dazu? Hat das Wissen über die Biotensegrität dadurch etwas in deinem Training vrändert?
Ich finde das Thema super interessant und auch wichtig und würde mich freuen, wenn die Vertreter der Biomechanik sich damit auseinandersetzen würden und ein Austausch und Weiterentwickeln ermöglicht werden kann.
Deshalb: toll dass du dich damit auseinandersetzt und darüber schreibst.
Was mich intressieren würde ist einfach die Auswirkung auf die Praxis.
Ich denke wohl, dass der lumbosakrale Übergang eine starke Bedeutung hat und kann die Gedanken durchaus nachvollziehen. Es ist schwierig, etwas zu pauschalieren, aber ich denke auch, dass die volle Konzentration auf die Hinterhandgelenke im Sinne einer „biomechanischen Beugung“ nicht immer nützlich sein kann.
Ich lerne in Punkto Biotensegrity immer noch sehr stark dazu und befasse mich aktuell mit sehr viel Literatur aus dem Humanbereich. Und ja, es hat mein Training auch verändert, sehr stark sogar. Ich werde fix natürlich auch weiter berichten, was ich verändere, was wir heraus arbeiten konnten usw.
Erste Auswirkung auf die Praxis ist, dass ich mir in dem Zusammenhang auch die Ausbildung der Schubkraft zu Nutze mache. Mein Konrad ist ja ein Pferd mit wenig Schubkraft an sich, von daher ist es auch spannend, hier noch stärker auf die Kraftübertragung (immer der Gedanke an das Wurfzelt) zu achten. Ich habe früher über Konrad gesagt, er wäre mein „pelziges Katapult“. Natürlich möchte man sich „sicher“ fühlen – das Katapultartige hat seiner Tensegrität aber gut getan und war der Ursprung „seines Muskeltonus“, also seines Fasziensystems. Das habe ich dann ein bisschen zu stark „wegrelaxiert“, soweit die Kurzfassung. Aktuell machen wir (weil wir auch auf einen neuen Sattel warten) sehr viel frei und Konrad orientiert sich an seinem Freund Schnucks, weil der in Punkto Spiegelung schon alleine durch seinen pferdischen Körperbau etwas mehr vormachen kann, als ich – somit haben wir zu dritt auch viel Spaß.