Vor kurzem habe ich mir einen pferdefreien Abend mit gutem, „österreichischem Schmäh“ und Kabarett gegönnt. Wer hätte geahnt, dass mich ein ehemaliger „Benzinbruder“ in Punkto Blickschulung tatsächlich zum „reiterlichen“ Nachdenken bringt?

Was glauben wir und was sehen wir?

Ein Satz aus dem Kabarett Programm von Roland Düringer stimmte mich sehr nachdenklich und hat mich natürlich sofort an die oft sehr heftigen Diskussionen unterschiedlicher Reitphilosophien erinnert:

„Sehen wir was wir glauben oder glauben wir was wir sehen“.

Dieser Satz unterstreicht für mich ganz deutlich, warum eigentlich jeder Reiter seinen Blick schulen sollte – und zwar ganz objektiv und möglichst unabhängig. Gerne werden im Internet Fotos gepostet und diskutiert. Ritte aller Sparten kann man sich auf Youtube oder anderen sozialen Medien ansehen und auf Herz und Nieren prüfen. Oft und gerne wird auch Fachliteratur herangezogen, um die jeweiligen Argumente zu verstärken oder zu begründen. Gerne wird hier beispielsweise auch mal Gustav Steinbrecht zitiert. Ich mag Steinbrecht. Lese ich immer wieder gerne. Freue mich, wenn ich beim Überfliegen eines Postings ein Zitat von ihm entdecke.

„Sehen wir was wir glauben“?

Steinbrecht sagte: „Reite dein Pferd vorwärts und richte es gerade“. Wir Reiter glauben daran. Schließlich hat Steinbrecht ja quasi die Bibel der Reitkunst „Das Gymnasium des Pferdes“ hinterlassen, auf der die so viel zitierte und bemühte Reitvorschrift H.Dv.12 fußt, und auch die Skala der Ausbildung hat somit einiges von Steinbrecht geerbt.

Wir sehen ein Bild und denken an „Vorwärts“, zitieren dabei vielleicht sogar Steinbrecht. Wenn`s einer wusste, dann der Steinbrecht. Betrachten wir also unser erstes Bild. Man ist natürlich geneigt die in der Luft befindlichen Pferdebeine genauer zu betrachten. Dieser Raumgriff, diese Energie im Trab. Diese Dynamik. Obwohl – kann es nicht auch lohnen, mal auf das stehende Vorderbein zu schauen? Das stehende, rechte Vorderbein ist weit unter den Körper hinein geschoben. Bei genauer Betrachtung ist das Bein sogar soweit nach hinten geschoben, dass es quasi unter den Reiter kommt.

Das diagonale linke Hinterbein steht nicht mehr am Boden, wer genau hinschaut, sieht, dass der Hinterfuß bereits abgefußt ist. Nur noch die Zehenspitze berührt den Boden.  Also sind praktisch drei Beine in der Luft. Wie kann das sein? Ein Taktfehler?
Aber das Vorwärts!!

Nun. Steinbrecht meinte mit Vorwärts keinesfalls schnell und schon gar nicht aus dem Takt.
Die Frage: Sehen wir, was wir glauben, hilft uns kritisch unser Auge zu schulen. Kritisch zu hinterfragen, ob wir auf heutigen, aktuellen Bildern tatsächlich noch das sehen, was die alten Meister einst als Vermächtnis hinterließen. Auf den ersten Blick scheint alles da zu sein, Schwung, Balance, Takt, Losgelassenheit. Wer sich jedoch genauer mit jedem Bild befasst, wird nicht umhin kommen mit detektivischem Spürsinn auch wirklich alle Komponenten abzufragen.

  • Balance: Sind alle vier Füße des Pferdes gleichermaßen belastet? Greifen die Hinterbeine in Richtung Schwerpunkt? Lässt das Pferd die Schultern hängen? Scheint die Kruppe höher?
  • Losgelassenheit: Ist das Pferd entspannt, wie ist sein Gesichtsausdruck? Wie sehen Augen und Maul aus? Nehme ich kleine Fältchen war, die ein Zeichen von Anspannung sein können? Wie erscheint der gesamte Muskeltonus? Wie trägt das Pferd seinen Schweif?
  • Durchlässigkeit: Überwiegt Schwung oder Tragkraft? Fußt das Pferd zum Schwerpunkt oder schiebt es nach hinten hinaus? Tritt es somit zur Hand hin oder von dieser weg? Kippen die Ohren nach vorne-unten oder nach hinten oben?
  • Tempo: wie wirkt das Pferd? Überhetzt? Versammelt? Faul? Fleissig?
  • Takt: je nach Gangart, handelt es sich um einen klaren, zwei-drei oder viertakt? Ist ein Bein zu früh oder zu spät abgefußt?
  • Wenn ich den Schwung als dreidimensionale Schwingung der Wirbelsäule durch den Pferdekörper annehme – schwingt dann mein Pferd, oder habe ich das Gefühl es hält sich an einer bestimmten Stelle im Körper fest. Wird irgendwo im Pferdekörper Spannung erzeugt?

Umgekehrt auch die Frage: „Glauben wir, was wir sehen?“

Ich lese gerne diverse Pferdemagazine. Manche Zeitschriften veröffentlichen auch eine Kinderseite, wobei der reiterliche Nachwuchs eingeladen wird ein paar Eindrücke zu Papier zu bringen. Besonders ins Auge gestochen ist mir das Bild einer jungen Leserin, die eine Piaffe zu Bild gebracht hat. Zuerst war ich natürlich beeindruckt, wie toll das Pferdchen gelungen war. Keine Frage, Kinder prägen sich das, was sie gerne haben rasch und gut ein. (Ich kann mich nur gut an meine eigene Kindheit erinnern, wo ich jedes leere Blatt Papier für eine Pferdezeichnung genutzt habe.) Was mir jedoch auch aufgefallen ist: Die Hanken waren nicht gebeugt, das Pferd „piaffierte“ eindeutig auf der Schulter, die Vorderbeine stark rückständig, die Nase deutlich hinter der Senkrechten.

Einige mögen jetzt denken: Was mäkelt sie da rum, ist doch die Zeichnung eines Kindes. Ja. Weiß ich. Eine sehr gute sogar.  Was mich aber daher erschreckend bewegt hat, ist die Tatsache, dass dies vermutlich das vorherrschende Bild einer Piaffe ist, die der reiterliche Nachwuchs heute zu sehen bekommt. Hochgeworfene Kruppen, schwere Schultern, die Hinterhand hüpfend, die Vorhand schwer auf der Stelle „tretend“.

Glauben wir also was wir sehen? Wenn wir alte Stiche – und es gibt auch solche, die aus vergangenen Tagen zu Leben erwachen betrachten, dann gibt es eine gänzlich andere Piaffe. Die Hanken gebeugt, der Brustkorb gehoben, die Schultern frei und die Nase deutlich vor der Senkrechten.

Ich möchte damit nicht zum Ausdruck bringen, dass nur noch perfekte Ritte ans Licht der Öffentlichkeit dürfen. Gerade aus Fehlern kann man lernen. Allerdings gilt es zu beachten, sein Auge zu schulen um Fehler überhaupt zu erkennen.

Ist das, was mir im Reitunterricht, auf einem Turnier, oder in einer Vorführung geboten wird wirklich klassisch? Ist es korrekt? Ist es auf dem Weg? Oder eher in einer Einbahnstraße? Wenn der reiterliche Nachwuchs die oben beschriebene Piaffe als korrekte Piaffe annehmen muss, weil er keine Alternativen kennt und sehen kann, ist es logisch, dass sich die Bilder auf den Reitplätzen nicht ändern.
Youtube bietet aber viel Videomaterial – auch von vergangenen Glanzritte.

Sehen wir was wir glauben, und glauben wir was wir sehen?

Ein Zitat, das uns immer wieder einlädt, uns zu überprüfen, Gelesenes zu hinterfragen – ja gerne auch zu diskutieren und unseren eigenen Spürsinn auszupacken.

signature2

Übrigens: Der eingangs zitierte österreichische Kabarettist – der hatte früher den Spitznamen „Benzinbruder“ durch seine Leidenschaft für Benzin, schnelle Autos und Motorräder. Heute fährt er Bahn. Es ist also selbst bei einer großen Leidenschaft möglich, seine eigenen Glaubenssätze und Ansichten zu überprüfen und sich weiter zu entwickeln.