Dehnungshaltung – Ja oder Nein? Oder: warum bilden wir nicht gleich individuell aus?
Für das Bookazin „Feine Hilfen“, Ausgabe Nr. 19 habe ich zu dieser Frage einen Artikel geschrieben.

„Während der ersten Ausbildung im Trab darf man weder versuchen, dem Pferd ein gutes Maul zu machen, noch seinen Kopf in eine bestimmte Stellung zu bringen. Hiermit muss man warten, bis es sich gelöst hat und die Leichtigkeit erlangt hat, mühelos auf beiden Händen zu wenden. Dadurch wird man ihm die Empfindlichkeit im Maul erhalten, weswegen auch der Gebrauch der Trense am Anfang besonders vorteilhaft ist, denn sie liegt sehr wenig auf den Laden und wirkt überhaupt nicht auf das Kinn, einem sehr zarten Teil ein“…

So schreibt François Robichon de la Guérinière im 18. Jahrhundert. Erst neulich habe ich den Spruch gehört: Wer schreibt, bleibt. Und ja, die Schriften der alten Meister haben in so vielen Belangen heute noch ihre Gültigkeit. Wer sich durch Xenophon, Pluvinel, Guérinière und Steinbrecht „büffelt“ bekommt genügend Ideen für Leichtigkeit, Balance und Reitkunst.

Vom Leichten zum Schweren

Wir Reiter neigen allerdings auch ganz gerne dazu, uns Vorschriften machen zu lassen. Hinterfragen wir diese! Warum haben die alten Meister welche Inhalte wie formuliert?

Ein Pferd ist ein Pferd? Mitnichten. Denn schon bei der Selektion zu Reitpferden machte man etwa zu Pluvinels Zeiten große Abstriche. Die jungen Pferde wurden in der Reitbahn freigelassen und beobachtet. Ein Pferd, das nicht von Haus aus im leichten Kruppeherein durch die Ecken lief und mit dem Gewicht auf der Hinterhand bremsen konnte, hatte keine Karriere als Reitpferd vor sich. Und die Pferde, die bei Pluvinel zum Reitpferd auserkoren wurden? Der französische Meister bildete seine Pferde vorwiegend am, um und zwischen den Pilaren aus. Ein Vorwärts-abwärts im Sinne, wie wir es heute verstehen, wurde nicht erarbeitet, wohl aber wurde auf die Leichtigkeit an der Hand bzw. die Bereitschaft der gebenden Hand zu folgen Wert gelegt.

Pluvinel hinterlässt uns vor allem eine großartige Pädagogik, mit mehrfacher Betonung die Individualität des vierbeinigen Schülers in den Vordergrund zu stellen:

„Es bleibt dem klugen und erfahrenen Reiter überlassen, die wichtigsten Grundlagen nach Bedarf mit Vorsicht und Einfühlungsvermögen bei seinem Pferd anzuwenden. Er wird dabei die Übungen verlängern, verkürzen oder verändern, je nachdem, was er als notwendig erkennt“. (Antoine de Pluvinel)

Zu tief? Zu hoch?

An wen ist also die Frage „Dehnungshaltung – ja oder nein“ gerichtet? An einen Ausbilder, der (so lautet zumindest unsere Annahme) sein Handwerk versteht, das junge Pferd somit ausreichend auf das Reiten vom Boden aus vorbereitet hat. Dieser Ausbilder wird sein Pferd kennen. Und zwar die physischen Voraussetzungen, wie auch seinen Geist.

Der kundige Ausbilder wird auf die Frage vermutlich antworten: Dehnungshaltung ja – oder anders gesagt: Erarbeitung einer Abkürzungsbereitschaft der Unterlinie und Dehnungsbereitschaft der Oberlinie, aber unter Beachtung aller biomechanischen Gesetzmäßigkeiten in Korrelation mit den körperlichen Voraussetzungen des auszubildenden Pferdes.

In der Praxis überwiegen jedoch die gemeinsam lernenden „Mensch-Pferdepaare“. Gustav Steinbrecht beklagt in seinem „Gymnasium des Pferdes“ bereits in der ersten Auflage von 1884 den Mangel an Reitakademien, in denen unerfahrene Reiter auf sehr erfahrenen Pferden den Sitz und vor allem das Reitergefühl schulen konnten.

Zwei Geister müssen wollen, was zwei Körper können – diesen Satz ruft Bent Branderup auf seinen Theorievorträgen immer wieder in Erinnerung.

 

„Jeder Reiter aber formt ja einmal in seinem Leben ein Pferd erstmals, das heißt, hierin noch ohne eigene Erfahrung. Je früher der Reitschüler also unter Anleitung mit der Wirkungsweise seiner Hilfen und ihrem eigentlichen Zweck vertraut gemacht wird, desto besser.“ (Egon von Neindorff)

Zumindest ein Geist muss also unbedingt wissen, was der auszubildende Körper überhaupt in dem Moment kann. Selten werden Pferde heute nach Pluvinels Methode hin selektiert. Meist entscheidet unser Herz oder der Bauch beim Pferdekauf. Das ist auch grundsätzlich in Ordnung, schließlich geht es ja darum, mit dem geliebten Pferd Zeit schön zu verbringen.

Das einzige Pferd, das sich bekanntlich nach dem Lehrbuch verhält, das steht im Lehrbuch drin und nicht auf unserer Koppel.

Wir kennen Diskussionen rund um das Bildungssystem. Wir kennen den Ruf nach Spezialisten, die Kinder möglichst früh und möglichst individuell fördern sollen. Wir müssen also jetzt zum Spezialisten für unser Herzenspferd werden. Vor allem dann, wenn unser ausgewähltes Pferd möglicherweise nicht der Spezialist für die Sparte der Reiterei ist, die wir für uns auserkoren haben.

Wir können die vielen Grundsätze aus der Geschichte der Reitkunst noch heute in Punkto Biomechanik und Pädagogik beachten. Wir müssen uns aber auch immer wieder in Erinnerung rufen – egal aus welcher Epoche die alten Meister zu uns sprechen: Sie hatten damals andere Pferde zur Verfügung und nutzten sie zu anderen Zwecken als wir heute. Auch der Zweck beeinflusst(e) die Methode stark.

Egal welchen Zweck wir also heute verfolgen, wir komme nicht umhin uns mit der Theorie zu beschäftigen. Natürliche Schiefe? Balance? Was bedeutet Losgelassenheit wirklich? Warum reiten wir eigentlich diese Seitengänge? All diese und viele weitere Fragen zu erörtern lohnt sich, bevor man die Frage nach pro und contra der Dehnungshaltung bearbeitet.

Ist mein Pferd zu stark auf der Vorhand, rollt es sich ein? Läuft es bereits über dem Tempo? Überwiegt der Schub?

 Das eine Pferd bringt vielleicht ein so gutes Vorschwingen der Hinterbeine unter die Körpermasse mit, dass ein korrektes Vorwärts-abwärts mit einer gedehnten Oberlinie sofort gelingt. Das nächste Pferd ist indessen so vorhandlastig und schiebt seine Masse schwer über die Vordergliedmaßen, so dass eine Arbeit im Vorwärts-abwärts in Bewegung eher weniger zielführend ist. Hier ist ein anderer Weg zu gehen.

 Weg vom Schema!

Sein oder nicht sein – dehnen oder nicht dehnen? Jede Möglichkeit zur Ausbildung muss wie ein einzelnes Werkzeug betrachtet werden. Es wäre daher nicht richtig, immer nach einem Schema F auszubilden. Pferde lassen sich nicht in Schubladen stecken – und wir auch nicht. Wer gedanklich in die eigene Vergangenheit reist und beim Turnunterricht in der Schulzeit innehält, wird sich vielleicht an die eigenen Stärken, aber auch an die Schwächen erinnern. Ein Schüler springt besser weit, der andere hoch, der dritte ist ein guter Sprinter, der vierte besser auf langen Strecken.

Wir pressen aber unsere Pferde gerne in Schemata. Wir sollten uns aber unbedingt fragen, warum was geschrieben wurde und in welchem Zusammenhang welche Ratschläge uns von den alten Meistern hinterlassen wurden.

Literatur studieren, den individuellen Weg wählen

Wir haben also eine Vielzahl an Werken, die wir studieren und hinterfragen können. Wo finden sich bei den alten Meistern die Gemeinsamkeiten – wo die Unterschiede? Wer liest, lernt, analysiert, fühlt und beobachtet, der hat einfach auch mehr Möglichkeiten, die korrekte Herangehensweise in der Ausbildung seines Pferdes zu wählen.

Auf Basis dieses Wissens heißt es dann: den Reitlehrer löchern, das Gefühlte in Fragen übersetzen. Wir können uns einen „Vokabelschatz“ zurecht legen, der uns als Dolmetscher für unser Pferd zur Verfügung steht. Pluvinels und Steinbrechts Pferde finden wir in den Büchern. Unser Pferd steht auf unserer Koppel. Lernen wir mit Hilfe der Alten Meister zu beurteilen, welche physischen Begebenheiten uns bei der Ausbildung erwarten werden. Was tun bei einem zu hoch oder tief angesetzten Hals? Steinbrecht liefert in seinem Gymnasium des Pferdes ein Sammelsurium an Erfahrungen und wertvollen Hinweisen. Setzen wir unser biomechanisches Puzzle mit dem Wissen der alten Meister zusammen, aber hinterfragen und analysieren wir jeden Schritt. Werden wir zum individuellen Pädagogen für unser Pferd!