Die wichtigste Hilfe für das Reiten ist und bleibt unser Körper – oder anders gesagt der Sitz. Wenn in der Bodenarbeit alles super funktioniert, beim Reiten Geist und Körper völlig aneinander vorbei sprechen, dann ist guter Rat teuer.
Die Sache mit dem Sitz und der Psychologie
Wenn wir mit dem Pferd zusammen sind, dann denken wir immer das Pferd geistig und körperlich nicht zu überfordern – auf uns selbst nehmen wir dahingehend kaum Rücksicht. Welche körperlichen und emotionalen Grenzen gibt es? Wie bitte? Emotionale Grenzen?
Ja, der Sitz hat natürlich auch eine psychische Komponente.
Du bist, wie du sitzt!
„Trau dich, schön zu sein“ – diesen Ratschlag gibt uns Bent Branderup auf seinen Theorieseminaren immer wieder gerne. Die Philosophie dahinter ist klar: Wenn man sich selbst schlapp und niedergeschlagen bewegt, mit hängenden und nach vor gezogenen Schultern, steif und ohne jegliche Geschmeidigkeit, dann färbt das freilich auch auf den Sitz ab. Aber wie können wir getrost schöner sitzen?
Bewegung hilft! Mir hat hier einerseits ein Programm geholfen, das ich leider viel zu selten in Anspruch nehmen konnte – die Rede ist von Mobilität, Stabilität und Kraft. Neben dem Training der Muskulatur und der eigenen Elastizität ist aber auch die emotionale Komponente nicht unerheblich – und hier führt Tanzen für mich ganz klar zum Erfolg. Aus Zeitmangel greife ich hier gerne zur „Silent Disco“ zurück und tanze mich mit Kopfhörern daheim im Wohnzimmer oder im Sommer auf der Dachterasse locker. Der Blick der Nachbarn: Unbezahlbar. Die Freude an der Bewegung ebenso.
Die Sache mit dem Sitz und mit der Bewegung
Wie bewegt man sich eigentlich selbst? Sich der eigenen Haltung bewusst zu werden ist eine immens spannende Reise in den eigenen Körper. Ich bin bereits mehrere Male zu Gast bei meiner Kollegin Hanna Engström in Schweden/Gotland gewesen und jedes Mal habe ich gierig auf die Einheiten ohne Pferd gewartet. Es macht unheimlich Spaß als Wurm im Gras zu kriegen, dem Ruf des eigenen Körpers zu folgen, wirklich mal hinzuhören, wo und wie Bewegung stattfindet und welche Abläufe mein Körper bevorzugt.
Im ersten Jahr bin ich sehr viel auf dem Zirkel gelaufen, bevor ich mich selbst auf der Geraden Linie gerade richten konnte. Ich habe genau hin gespürt, wie ich auffuße, welches Bein schiebt, welches Bein trägt und ob ich meine Arme auch benutze, um die Brustkorbrotation effizient zu nutzen.
Seitdem versuche ich möglichst oft, möglichst bewusst zu laufen. Ich bin auch sehr viel in Bewegung und kann langes Stillsitzen nur noch sehr schlecht verdauen.
Wenn man seine eigene Bewegung observieren möchte, dann fängt man gerne auf einem Zirkel an – möchte man lieber links oder rechts herum laufen? Auch das ist freilich interessant, denn das Pferd hat auch eine Meinung dazu – und dann gibt es viele Möglichkeiten: Beide laufen gerne links rum, das Pferd lieber rechts, der Reiter links oder umgekehrt.
Wie fußen eigentlich die Füße auf, gibt es ein Bein, das den Zirkel gerne verkleinert oder eines, das den Zirkel vergrößert? Wie ist der Schwung der Arme? Schwingen sie gleichmässig mit dem diagonalen Beinpaar nach vorne. Kommt eine Schulte besser nach vorne? Fühlt sich die Bewegung in den Hüften gleichmässig an? Wie ein Kreis? Oder eher eckig? Und wie verhält es sich mit den Bewegungen der Schulter?
Im Grunde lohnt es sich, mal einen Scan von Kopf bis Fuß hinsichtlich der Bewegungsqualität eines jeden Gelenks durchzuführen.
Der erste Schritt zu einem besseren Sitz ist immer das Bewusstmachung der eigenen Bewegung.
Die Sitzanalyse fängt also bei mentaler und körperlicher Fitness beim Reiter an. Wilhelm Müseler schreibt dazu:
„Der Begriff Sitz des Reiters wird oft falsch aufgefaßt, denn er bezieht sich weniger auf die Haltung der Gliedmaßen, wie gewöhnlich angenommen wird, als vielmehr darauf, ob der Reiter
– sich nur durch die Balance im Sattel hält und
– Losgelassen zu Pferde sitzt,
– Gelernt hat, in die Bewegungen des Pferdes einzugehen.
Wilhelm Müseler
Wer diese drei Elemente des Sitzes wirklich beherrscht sitzt gut und schön, hat seine Gliedmaßen in der Gewalt, vermag sie so zu halten, wie ihm sein Gefühl vorschreibt und wie es notwendig ist, um richtig einwirken zu können.“
Die Sache mit dem Sitz und dem Gefühl
Ist es nicht erstaunlich, dass es Reiter gibt, die permanent über Kreuzschmerzen (verursacht durch das Reiten) klagen und dann aber Menschen die die Bewegung des Pferdes durchaus zu therapeutischen Zwecken nutzen können um Krankheiten oder Defizite am eigenen Bewegungsapparat zu verbessern?
Der Reiter mit den Kreuzschmerzen möchte gerne „erzeugen“ und vielleicht möchte er auch möglichst „schön sitzen“:
„Die Vorstellung von einem so genannten vorschriftsmäßigen, korrekten Sitz des Reiters ist Veranlassung zu einer gefährlichen Überschätzung der äußeren Form und hat dadurch schon viel Unheil angerichtet. Man kann sehr verschieden zu Pferde sitzen, man kann auch sicher durch Absehen von anderen viel lernen, aber ebenso wie jede Abbildung eines korrekten Sitzes oder seine Beschreibung unwillkürlich jeden dazu veranlassen müssen, die äußere Form nachzuahmen ist es auch falsch, wenn der Reitlehrer einen Reiter veranlasst, sich irgendwie vorschriftsmäßig hinzusetzen. Das muss notwendigerweise zur Steifheit führen und das ist gerade der schwerste Reiter“
Wilhelm Müseler
Die heilsame Bewegung des Pferdes ist auf seine dreidimensionale Schwingung der Wirbelsäule zurück zu führen. Der Brustkorb hebt und senkt sich, er bewegt sich zur Seite und in Rotation – gerade diese Bewegung versetzt unsere eigene Wirbelsäule in eine angenehme Schwingung, da sie unserer Eigenbewegung recht verwandt ist.
Warum haben dann so viele Reiter Kreuzschmerzen? Einerseits, weil sie dem vorschriftsmässigen Sitz entsprechen wollen, andererseits, weil sie sich nicht auf die Bewegungen des Pferdes einlassen, sondern selbst Bewegungen erzeugen möchten.
Die Sache mit dem Sitz und den Bewegungen des Pferdes
Das linke Hinterbein schwingt als Spielbein vorwärts, die linke Hüfte des Pferdes senkt sich, der Brustkorb schwingt auf der linken Seite nach vorne unten, währenddessen ist das rechte Hinterbein in der Standbeinphase, die Hüfte bewegt sich nach hinten-oben, der Brustkorb hebt sich auf der rechten Seite. In dieser Bewegung würde der linke Sitzknochen vorwärts und abwärts bewegt werden, wenn der Sitz dem linken Hinterbein folgt. Häufig „schieben“ aber Reiter mit beiden Gesäßknochen vorwärts, um möglichst viel „Schwung“ zu erzeugen. Schwung wird dann gerne auch mit Energie verwechselt, nicht jedoch mit der dreidimensionalen Bewegung der Wirbelsäule, die freilich durch einen schlecht sitzenden Reiter ebenso in Mitleidenschaft gezogen wird.
Die Sache mit dem Schwerpunkt und dem Sitz
Ein weiterer wichtiger Faktor beim Erlernen des funktionalen Sitzes ist, dem Schwerpunkt des Pferdes zunächst zu folgen und diesen später auch zu beeinflussen. Hier kommt jedoch auch immer eine pharmazeutische Dosis ins Spiel. Der Reiter soll seinen Schwerpunkt mit dem des Pferdes übereinbringen. Wenn wir in der Bodenarbeit bereits mit der Balance und der Verschiebung von Balance gespielt haben, dann haben wir bereits ein Gefühl entwickelt, das uns später auch beim Reiten nützlich sein kann.
Zum Schwerpunkt hatten auch die Alten Meister einiges zu sagen – so etwa Gustav Steinbrecht:
Nur dann ist er mit seinem Pferde in vollkommener Harmonie und gleichsam eins mit ihm geworden. Eine Hauptregel für diesen auf richtiger Schwerpunktsverlegung beruhenden Balancesitz ist die, dass das geradegerichtete Rückgrat des Reiters auf dem des Pferdes stets senkrecht ruhen, also mit ihm einen rechten Winkel bilden soll.
Gustav Steinbrecht
Weitere Tipps der Alten Meister zum Thema Sitz gibt es unter folgendem Link zum nachlesen.
Der erste Schritt zum funktionalen Sitz ist also die Auseinandersetzung mit der Bewegung von Mensch und Pferd. Theorie ist gut, Praxis jedoch immer notwendig.
Equestrian Movement mit Annika Keller
Meine Kollegin Annika Keller hat ein ganz spannendes Konzept entwickelt – das Equestrian Movement Konzept. Annikas Konzept beruht auf dem integrativen Bewegungsystem, das die ursprüngliche Bewegung des Menschen zu Tage bringt, die wir als Kinder noch ganz selbstverständlich ausgeführt haben.
„Für uns war es damals keine große Sache aus dem Stand einen Purzelbaum zu schlagne. Wir haben uns immer wieder aus unserer horizontalen Sichtlinie heraus begeben. Das tun wir heute selten, daher erschrecken wir auch so, wenn wir einmal zu Boden stürzen“.
Annika Keller
Somit kann ein Handstand sehr nützlich sein, um den Reitersitz zu verbessern.
Mehr über Annikas Equestrian Movement könnt ihr hier nachlesen – und vielleicht ein paar kleine Ideen in den Alltag integrieren.
Bewegung erkunden, seine eigenen Bewegungsgrenzen ausloten und auch mehr Freude an der Bewegung haben – das war für mich selbst auch ganz wichtig (so schließt sich der Kreis zum Tanz).
Mit dem Sitz Hilfen geben
Bewegungsfreude ist überhaupt ein wichtiger Schlüssel, wenn wir den Sitz später auch als Hilfe gebrauchen wollen. Wenn wir schon von Beginn an eine Antipathie gegen unseren Körper und gegen unseren Sitz entwickeln, dann kann das nix werden. Wenn wir selbst schon nicht unserem Körper sprechen wollen, dann wird das Pferd davon auch nicht gerade begeistert sein.
In vielen Reitern, die sich für die Akademische Reitkunst begeistern, schlummert ein kleiner Perfektionist, dieser darf jedoch nicht zum Spielverderber werden, denn die eigene Analyse, ohne immer alles gleich negativ zu bewerten ist unser wichtigster Verbündeter, wenn wir den Sitz laufend verbessern wollen.
Was muss unser Sitz also können?
- Den Bewegungen des Pferdes folgen
- Die Bewegungen des Pferdes beeinflussen – also wie beim Paartanz: Die Führung übernehmen.
- Den Schwerpunkt des Pferdes beeinflussen – somit brauchen wir ein ziemlich gutes Gefühl für Balance und Schwerpunkt. Balancieren wir daher so oft wie möglich beim Spaziergang im Wald über Baumstämme, Felsen usw.
- Informationen aufnehmen und analysieren – aus dem eigenen Körper und aus dem Körper des Pferdes.
- Mit dem Pferd kommunizieren!
- Das Anforderungsprofil für unseren Sitz ist: Alleskönner.
Wie wir die unterschiedlichen Anforderungen in der Praxis umsetzen können verrate ich im nächsten Blogbeitrag. Am kommenden Wochenende freuen wir uns auf Hanna Engström aus Schweden, die uns in Punkto Sitz wieder viele Anregungen mitgeben wird. Acht unterschiedliche Paare nehmen am Kurs mit Hanna Engström teil – jeder hat sein eigenes Thema im Gepäck – es bleibt auf jeden Fall spannend.
Bis dahin – Tanze!!
Oder lass dich weiter inspirieren durch:
- Meinen Artikel zum Reitersitz in den Feinen Hilfen Ausgabe 25
- Der Sattel, der den Sitz schult – Alles über das Schulungspad von Bent Branderup
- Erste Hilfe für den Sitz Teil 1
- Erste Hilfe für den Sitz Teil 2
- Hanna Engströms Website
- Annika Kellers Website
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