„Mein Pferd ist mein Spiegel, der meine schlechte und gute Laune unverfälscht wiedergibt. Sieh hinein in die Augen deines Pferdes, aber erschrick nicht über die Wahrheit.“

Vielleicht wird manchmal auch zu wenig in die Augen der Pferde gesehen – also überhaupt nicht reflektiert. Erst vor kurzem habe ich unfreiwillig weniger schöne Szenen im „Miteinander“ zwischen Pferd und Mensch beobachtet.

Ich habe dann ein längeres Telefongespräch mit Journalist, Autor und Pferdemann Martin Haller dazu geführt.
Im Gespräch fand ich rasch heraus, dass mir vor allem eine Sache sehr nah ging. Nette, sanfte Menschen können im Handumdrehen richtig harsch ihrem Pferd gegenüber werden.
Was tut sich da in einem Menschen? Martin Haller erzählte mir von einem Text, den er als Journalist für einige Zeitschriften geschrieben hatte – genau passend zu diesem Phänomen. Aber keine Zeitschrift hatte den Mut, seine Geschichte abzudrucken.

Ich hab ihn. Und der Mut sollte, wenn es um Lebewesen geht nie aufhören.
Die Geschichte ist jetzt sicherlich nicht für meine Leserzielgruppe geschrieben – denn gerade hier erhalte ich doch so vieles schönes Feedback von Menschen, die sanft und nachhaltig mit ihren Pferden Zeit schön verbringen wollen.

Aber irgendwo muss der Artikel von Martin Haller einen Platz finden – vielleicht gibt er anderswo einen Anstoß, um wieder hineinzublicken in die Augen der Pferde – und nachzufragen, was gespiegelt wird.  😉

Jekyll und Heidi – von Martin Haller

 

Heidi war ein liebes Mädchen, alle mochten ihre blonden Zöpfe, die kecken Sommersprossen und das vorwitzige Näschen. Natürlich liebte sie Pferde über alles, ihr Kinderzimmer war lückenlos tapeziert mit Postern von langmähnigen Friesen, blonden Haflingern und frechen Shettys. Heidis Idole? Was für eine Frage – sie hatte mit fünf Pipi Langstrumpf und den Kleinen Onkel vergöttert und mit sieben ein bekanntes Pferdemagazin für Mädchen (beginnt mit W- und endet mit –endy) abonnieren dürfen – die Oma stand dafür grade. Mit neun hatte sie erste Reitstunden im ländlichen Verein und entbrannte in schwärmerischer Mädchenliebe für Isabell Werth, aber die gefiel ja auch älteren, männlichen Semestern ganz gut… als Heidi die ersten kleinen Reitabzeichen erritten hatte, war Gigolo FRH schon über seinen Zenit hinweg – und unsere junge Heldin bekam bald darauf ihr erstes eigenes Pferd. Gladiator wurde wegen seines etwas eckigen Exterieurs im Stall nur „der Radiator“ gerufen, ging mühelos eine A-Dressur und sprang über alles, solange es nicht höher als 95 cm war oder blau-gelb lackiert – offenbar hatte man vergessen, ihn zu dual-aktivieren, aber das fiel damals noch nicht so auf.

Heidi liebte den Radiator abgöttisch, denn mit ihm errang sie zahllose Schleifen und eine nette kleine Pokalsammlung in Caprilli- und E-Bewerben, alles unter Anweisung der mütterlichen Reitlehrerin des ländlichen Vereins, die ein großes Herz für Kinder und ein noch viel größeres für Pferde hatte. Sie gab Heidi einen guten Sitz und machte Radiators steifen Rücken wieder geschmeidiger, sie behielt im Unterricht immer das Augenmaß und am Club-Turnier die Ruhe. Mit einem Wort, Heidi war auf dem besten Weg, eine kompetente, gefühlvolle und pferdefreundliche Reiterin zu werden…

Die Tatzeit

Ganz genau kann niemand sagen, wann es begann; wohl mit der Übersiedlung in den neuen Stall am Stadtrand. Heidi war anfangs traurig, denn sie vermisste ihre nette Reitlehrerin und die anderen Mädels, mit denen sie am Land schwimmen gegangen war und Radtouren gemacht hatte. Der Radiator fühlte sich auch nicht wohl, so ohne Koppelgang und stundenlange Ausritte im Wald. Aber dafür bekam sie nun „richtigen Unterricht“ vom örtlichen Turnier-Crack, dem man ein unfehlbares Händchen für junge Talente nachsagte, sowie einen scharf ausgeprägten Geschäftssinn. Schon nach sechs Monaten hatte er Heidis Mutter davon überzeugt, dass Radiator dem Talent des Teenagers nicht gerecht werden könne. Na, und Mutti wiederum brauchte nicht lange, Vati zum Kauf eines braunen Hannoveraners zu überreden, der „zufällig im Stall des Cracks zum Verkauf stand…“. Der Rest der Geschichte ist klingt uns vertraut: Radiator wurde in den Schulstall verbannt und der neue Braune so richtig in die Mangel genommen („gefördert“, sagte der Guru), und Heidi mit ihm. Der Erfolg stellte sich bald ein, erste Siege in A waren alsbald errungen, dann wurde es etwas zäher, denn L ließ auf sich warten. Irgendwie schien es, als ob der Braune nicht mehr so richtig zog, stumpf und triebig wirkte. Aber inzwischen war Heidi zum einen schon viel routinierter geworden, zum anderen durfte sie nun bewaffnet reiten, was ihr die alte Reitlehrerin immer strengsten verboten hatte. „Sporen muss man sich verdienen…“ hatte es immer geheißen – so ein Quatsch, weiß doch jeder, dass man die überall kaufen kann und kein Gaul ohne die richtig geht, vor allem mit Schlaufer… Wie auch immer, der Braune wurde flott gemacht, mit allerhand Pülverchen, viiieeel Hafer und regelmäßigem Beritt vom Meister, ganz in der Früh in leerer Halle. Vati fragte manchmal etwas verzagt, ob „das alles denn wirklich nötig sei, früher wäre es ja auch viel billiger gegangen…“, aber der hatte ja wie üblich keine Ahnung und war dann schon stolz, wenn Heidi und der Braune mal wieder A gewannen oder L platziert waren.

Kurze Rückblende

Einige Sommer gingen ins Land; Heidi hatte viel gelernt, Kurse absolviert, Prüfungen abgelegt und Siege erritten. Der Braune war inzwischen nicht mehr der „alte Braune“ (der vergammelt mit Sehnenschaden in der Provinz als Kinderpferd – sonniges Gemüt hatte er ja). Brauner Nummer drei geht inzwischen brav M, hat schon alle S-Lektionen drauf, und Heidi ist ein angesehenes Mitglied der Szene. Sie fühlt sich zuhause und gut aufgehoben, denn fast alle jungen Frauen in ihrem Stall und am Turnier sind genau wie sie. In ihren Spinden türmen sich die Leckerlisäckchen, mit Apfelaroma und Bananengeschmack, mit Multivitamin-Faktor und Lecithin-Extrakt… neben Sporen aller Art, drei Dressurgerten und ein paar sehr stark abgenützten Schlaufern…

Als Anwaltssekretärin ist Heidi einsame Spitze, man lobt ihre Freundlichkeit, sogar der Seniorchef hält große Stücke auf sie. Ihr Langzeit-Verlobter ist unsportlich, wie er lachend zugibt, er geht mit seinen Freunden lieber zum Skat und hält es laut eigener Aussage mit Winston Churchill – „No sports!“. Vielleicht besser so, denn im Reitstall würde er Zeuge einer Verwandlung, die ihm möglicherweise das Blut in den Adern gefrieren ließe…

Das Grauen

Jeden Abend nach Dienstschluss lenkt Heidi also ihren Flitzer zum Reitstall. Frohgemut stellt sie das Auto ab und geht die paar Schritte zur Reithalle, mit einem Lächeln auf den Lippen und einem Grußwort für jedermann, Stallpersonal, Reiterkollegen und Anhang in Warteschleife. Und dann passiert es, mit der immer gleichen schrecklichen Regelmäßigkeit – ein dunkler und bedrohlicher Zwang befällt unsere Heidi. Sie selbst ist sich dessen zwar nicht bewusst, aber man bemerkt es und redet darüber, sogar Leute, die nichts vom Reiten verstehen. Sie mutiert allabendlich!

Beim Satteln wird es schon erkennbar, da überfällt sie eine seltsame Ungeduld. Wenn ihr Wallach (Der Dulder aus der Duktus-Duellant-Linie) sich beim Nachgurten mal aufbläst, gibt es einen ungeduldigen Knuff in die Rippen und ein scharfes Wort. Nimmt er das Gebiss nicht sofort ins Maul, knallt ihm der kalte Stahl an die Zähne. Aufgestiegen wird in Heidis Stall noch immer nach dem alten Kavalleristen-Motto „Wer nicht allein raufkommt, soll nicht auf’m Pferd sitzen“, also hantelt sich Heidi, wie alle anderen auch, mittels der Abstoßen-Hochziehen-Reinplumpsen-Methode in den Sattel. Der Hannoveraner hat – was keiner weiß – sensible Dornfortsätze, daher erduldet er die Kletterpartie nur ungern und tänzelt etwas. Dann kommt ein scharfer Ruck ins Maul, und ein gezischtes „Bleib halt stehen, du Bock“ entfährt Heidis ansonsten sinnlichen Lippen, die nun gar nicht mehr so sinnlich, sondern verkniffen wirken.

Heidi sitzt endlich zu Pferde, doch was ist mit ihr geschehen? Wo sind Humor und Geduld, wo ihre gute Laune und ihr Sinn für tolerante Problemlösungen geblieben? Sie reitet, als ginge es um ihr Leben; als müsste sie, so wie im Film das Murmeltier täglich grüßt, jeden Tag aufs Neue eine Olympia-Dressurprüfung gewinnen. Der Dulder wird höchstens eine Runde im Schritt aufgewärmt, aber das ist eher pro forma, dann geht es nahtlos in den Mitteltrab und die Flieger. Seitengänge und Piaffe-Passage-Touren folgen, der Schweiß lässt das Fell des Braunen schon nach zehn Minuten dunkel glänzen. So strampelt er wie um sein Leben, vorne geknebelt und hinten traktiert, dazwischen mit der Gerte energisch „unterstützt“, wenn ein Wechsel mal nicht durch ist oder eine Piaffe zu wenig gesetzt.

Ist Heidi, wenn sie reitet, gar nicht mehr Heidi, sondern jemand anders? Steckt ein Beelzebub in ihr, ist sie von einer bösen, fremden Macht besessen, die immer dann von ihr Besitz ergreift, wenn sie aufs Pferd steigt? Und wer oder was hat Heidi soweit gebracht…? Wie gesagt, man schätzt sie, als Mensch ganz besonders, und als Reiterin auch. Die Berittpferde gehen gut für sie, wenn man Heidi nicht täglich rauflässt (so flüstert man sich zu, wenn sie es nicht hören kann). Einmal die Woche täte es manchen Pferden – aber nicht allen – offenbar ganz gut, von Heidi mit Nachdruck durchgearbeitet zu werden, aber öfter geht nicht, da werden sie sauer, besonders blütige Typen…

Wenn Heidi vom Pferd springt und den verschwitzten Hals des jeweiligen Kandidaten klopft, entkommt ihr hin und wieder auch ein zufriedenes Lächeln, das an früher erinnert. Früher, als sie mit Radiator und ihren Mädels lachend über die Wiesen galoppiert war. Aber sie denkt nur mehr sehr selten daran…