Reitkunst ist Lebenskunst, ist Trend und Stil, ist kulturelles Erbe und Popkultur zugleich. Popkultur entsteht aus der Subkultur, die sich vom Vorherrschenden oder Elitären unterscheidet – ist die Akademische Reitkunst hier als Alternative zum vorherrschenden „Das war schon immer so?“ Entstanden? Und wie ging es wohl der Reiterei zum Zeitpunkt der Entstehung der HDV12. War die Campagnereiterei eine Subkultur, die später Mode und zum Mainstream wurde – und wo entstehen die heutigen Trends?
Es war einmal…
Mit der Mode ist es ja so eine Sache, die Trends wiederholen sich immer und immer wieder. Was würden François Robichon de la Guérinière, Antoine de Pluvinel oder Gustav Steinbrecht heute über das Wiederkehren gewisser Modeströmungen sagen?
„Alle Wissenschaften und Künste haben Grundsätze und Regeln, durch die man Erkenntnisse gewinnt, die zur Vervollkommnung führen. Nur die Reitkunst scheint eine bloße Übungssache zu sein.
In Wirklichkeit ist Reiten ohne theoretische Grundlagen eine rein mechanische Angelegenheit, deren ganzer Erfolg in einer gezwungenen un d unsicheren Ausführung besteht.
Es ist ein falscher Glanz, der Halbkenner blendet, die mehr durch die Ausstrahlung eines Pferdes als durch das Können des Reiters beeindruckt werden. Daher erklärt sich auch die geringe Zahl gut ausgebildeter Pferde und das geringe Können, das man gegenwärtig bei den meisten feststellt, die sich als Reiter bezeichnen.“
François Robichon de la Guérinière
Wie recht Guérinière doch hat. Sein Zitat ist im Gestern aktuell und richtungsweisend (und dieses „gestern“ ist übrigens 1733) aber auch heute aktueller den je. Hat Guérinière einen Trend vorhergesagt? Leider ja, denn der Mensch lässt sich einst und heute gerne durch falschen Glanz blenden.
Auch bei Pluvinel finden wir 1670 dazu passende Textpassagen:
„…obwohl es kaum möglich ist, gut und nicht gleichzeitig elegant zu reiten, kann jemand doch zu Pferde elegant wirken, ohne ein guter Reiter zu sein, umso mehr, als dazu genügt, vom Kopf bis zu den Füßen korrekt auf dem Pferd zu sitzen. Sehen wir so jemand nur im Schritt in dieser Haltung spazieren reiten, könnte man sagen, es sehe elegant aus, und wenn derjenige genug Sattelfestigkeit besitzt, um auch bei stärkeren Bewegungen seine gute Haltung zu bewahren, wird er immer den Ruf erwerben, elegant zu reiten. Selbst wenn das Pferd nichts Brauchbares zustande bringt, obwohl es gut ausgebildet ist, wenn nur der Reiter seine gute Haltung bewahrt, wird man viel eher seinem Pferd als ihm die Schuld geben. Um aber wirklich ein guter Reiter zu sein, muss man mit Hilfe seines praktischen Könnens und seines Verstandes in der Lage sein, alle Arten von Pferden in allen Gangarten und Lektionen auszubilden, ihr Temperament zu erkennen, ihre Veranlagungen, ihre körperliche Verfassung, ihre guten und schlechten Seiten, ihr gesamtes Wesen.“
Antoine de Pluvinel
Und Steinbrecht, ach, Gustav Steinbrecht schlägt den Spagat von der Reitkunst zur Modeerscheinung:
„Die schönen Künste erzeugen wahrhaft Schönes nur, wenn sie sich in den Grenzen des Natürlichen halten. Jede Überschreitung dieser Grenze bestraft sich durch Zerrbilder und Karikaturen, und obgleich die Mode auch solche mitunter schön findet, haben sie doch mit der wahren Kunst nichts gemein.“
Gustav Steinbrecht, Das Gymnasium des Pferdes
Des Kaisers neue Kleider heute?
Was die Alten Meister einte? Auch sie haben Trends und Höhepunkte der Reitkunst miterlebt, manchmal auch stark gegen Strömungen argumentiert, beispielsweise Steinbrecht, der „Vater der Biegungen“ in Richtung Baucherismus.
Kritisch wurde von ihm aber auch der Mangel an Reitinstituten beäugt, das gemeinsame Lernen von zwei- und vierbeinigen Studenten. Schulpferde, die das wahre Erbe der Reitkunst weiter tragen konnten, waren schon 1885, als das Gymnasium des Pferdes veröffentlicht wurde Mangelware und trotzdem schien die Reiterei zu boomen:
„Leider ist es unglaublich, wie viel Unverstand gerade in dieser schönen Kunst zutage tritt, weil jeder unfähige oder leichtsinnige Mensch, der in anderen Fächern kein Fortkommen sieht, sein Glück als Bereiter versucht. Ohne jede wissenschaftliche Erkenntnis seiner Aufgabe, oft selbst ohne die nötige körperliche Befähigung dazu, beginn der nun das edelste Geschöpf unserer Tierwelt handwerksmässig, wie der Tischler das Holz, nach der Schablone zu bearbeiten, und ruht nicht eher, bis es entweder gänzlich zerbrochen, oder sein Meister und Herr geworden ist. Anstatt die natürlichen Bewegungen des jungen Pferdes durch Sitz und Hilfen zu fördern, stört und hemmt er sie durch seine eigene steife und falsche Haltung, durch unnatürliche Aufrichtung der Vorhand und durch die Härte der Uneinigkeit seiner Hilfen. So unterdrückt er nach und nach alle Fähigkeiten des Pferdes, und wenn er es zum Krüppel gemacht hat, wird er seiner von Natur schlechten Beschaffenheit zugeschoben“.
Gustav Steinbrecht, Das Gymnasium des Pferdes
Auch heute lässt sich das Märchen vom Kaiser, der sich „zauberhafte Kleider“ aufschwatzen ließ und letztlich sogar nackt durch die Straßen zog, in dem Glauben, nur Menschen mit besonderen Fähigkeiten könnten dieses ultimative Modestück erblicken – auf die Reitkunst und Reiterei übertragen.
Ein Pferd kann auf viele Arten seine Pferdebeine heben – beispielsweise auf die stechende Art. Hier wird das Vorderbein weit nach vorne „geschnepft“, von hinten kommt allerdings „nichts nach“. Verursacht wird das ganze Zauberstück durch eine harte Reiterhand, die die Wirbelsäule des Pferdes unter Spannung setzt. Das Hinterbein gerät aus dem Takt, häufig sieht man eine Einbeinstütze im Trab.
Denken wir zurück an den nackten Kaiser in seinen neuen Kleidern. Ein Kind, das dem „Catwalk“ des Kaisers zusah, hat ihn letztlich „enttarnt“. Die stechende Art, die Vorderbeine zu heben, wurde von Friedrich von Krane, einem preußischen Oberst und hippologischen Schriftsteller Mitte des 19. Jahrhunderts aufgedeckt.
Aber weil die Mode nunmal Mode ist werden im heutigen Sport sowohl die paukende, als auch die stechende Art toleriert. Gehen wir davon aus, dass jedwede Bewegung mit der Wirbelsäule ihren Anfang findet und im Falle exaltierter und spektakulärer Bein-Akrobaktik ihr Ende findet, dann wird die Mode stark in Frage gestellt.
Die Funktionalität der Mode auf den Laufstegen von Paris ist ebenso häufig in Frage gestellt – Kunst ist eben Kunst – aber darf ein Körper künstlich werden? Ein Körper, der Heimat ist für einen liebevollen und aufgeschlossenen Geist, der entscheidet vieles auf sich zu nehmen, was im Grunde gar nicht mit den körperlichen Fähigkeiten (des Pferdes) zusammen passt?
„In keiner Kunst ist das Sprichwort „Übung und Erfahrung macht den Meister“ mehr zu beherzigen, als in der Reitkunst. Die Natur zeigt eine solche Mannigfaltigkeit in ihren Schöpfungen, dass wir nicht unter Millionen Wesen ganz gleiche Exemplare finden. Der Bereiter kann daher nur durch Erfahrung lernen, die naturgemäßen Grundregeln der Kunst auf das einzelne Pferd mit seinen Sonderseiten fein und richtig abzuwägen und geschickt anzuwenden.“
Gustav Steinbrecht, das Gymnasium des Pferdes
Ein Modetrend der sich durchsetzt
Was die meisten Reiter eint – jeder würde gerne recht haben. Jeder weiß es besser. Das ist die eine Seite und die andere ist, zu akzeptieren, dass manche es tatsächlich besser wissen.
2012 kam die Schulparade so richtig à la mode.
Bild 1:
Gab es die Schulparade vorher? Ja, das zeigt der Stich von Perger 1815 von Oberbereiter Max Ritter von Weyrother.
Weyrother war übrigens quasi modischer Trendsetter vor Gustav Steinbrecht, wenn wir eine Ahnengalerie der Reitkunst verfolgen wollen. Fast 200 Jahre später gibt es da eine Gruppe, die sich einmal im Jahr in Dänemark trifft (und entgegen aller Vermutungen keine okkulten Sprünge ums Lagerfeuer im August treiben) und fachlich über Pferde und Reitkunst diskutieren.
Und ja, auch hier glaubt man durchaus immer wieder mal recht zu haben, die Weisheit hat man jedoch erst gepachtet (!…man beachte das Zitat, man hat die Weisheit gepachtet – das heißt, sie gehört uns nicht gänzlich), wenn man bereit ist aus vielen Fehlern zu lernen. Und ja, wir machen viele, unglaublich viele Fehler.
So wird also 200 Jahre nach Weyrother intensiv über die Nuancen der Parade diskutiert. Die meisten Reiter, die sich da zur Sommerakademie in Dänemark treffen sind leidenschaftliche Forscher, keine Pauschaltouristen, Entdecker und haben auf ihren Reisen mindestens drei oder mehr Packesel – Pardon Reitkunstpferde mit von der Partie sowie die Pferde ihrer Reisebegleiter (Schüler).
So entdecke ich beispielsweise, dass meine Fuchsstute unglaubliche vier Jahre gebraucht hat, um die Schulparade letztlich zu verstehen. Und ohne korrekte Rotation des Brustkorbes, ohne korrekte Platzierung der Vorder- und Hinterbeine lief da nichts. Komplett anders Pina: Da fällt der Brustkorb runter, der Unterhals wird nach vorne gedrückt, die Lende kommt hoch, ein Katzenbuckel lässt zweifeln, ob es sich bei dem Tier um einen großen Kater oder doch um das liebe Pinentier handelt. Pina braucht immer die Idee von Bewegung und setzt Aufgaben leichter um, wenn der Ausbilder in der Nähe jener Gelenke ist, die sie schließlich beugen soll. Tabby hingegen braucht das Detail. Konrad setzt spielerisch sowieso alles rum und Amena muss nicht drüber nachdenken. Wer hat nun wen ausgebildet? Nun ja, ohne meine strengen Stuten wäre ich wohl nie das „tapfere Schneiderlein“ für meine jungen Lipizzaner geworden.
Was ich damit sagen will? Eine Gruppe von mehr als 100 Ausbildern, die wiederum auf den Erfahrungsschatz von zig Pferden zurück greifen kann, vereint bald mehr als 1.000 Erfahrungen.
Des Kaisers neue Kleider und das Gewissen
Oh, was bin ich froh, dass ich diese Gruppe um mich habe. Da gibt es Kollegen, deren kritische Herangehensweise ich unglaublich schätze, da sie mich ebenso zur Überprüfung anregen, zum Nachdenken und nicht zum gedankenlosen „Hinnehmen“ und Akzeptieren. Ich mag die Kollegen, die sich vom Mainstream abheben und offen sagen: Meine Herangehensweise ist anders, weil….und ich mag die Kollegen, die sich auf die Feinheiten spezialisieren, auf Reha. Die Kollegen, die im Hauptberuf Veterinärmediziner sind, Ostheopathen, Experten für Ernährung, Zahngesundheit oder Hufe. Ich mag dieses geballte Wissen, die Kraft die sich daraus ergibt.
Also – diese Gruppe ist mein Gewissen, da ich eben auch nur ein Mensch bin. Ich bleibe demütig, ich bleibe am Boden, ich bleibe geerdet und hebe nicht ab – auch wenn ich – wie jeder gute Ideen zur Reitkunst beisteuern darf.
Und wenn man das nicht hat?
Es gibt Reiter, die sich einen Namen machen, Modetrends entwickeln und schon entstanden ganz typische Strömungen im Horsemanship, in der Dressurreiterei, beim Verhaltenstraining oder eben auch in der Klassischen Reitkunst – wobei sich vermutlich die „Kritikanallesundjedemströmung“ weniger in der Praxis sondern vermehrt in der Theorie findet und hier vorzugsweise in sozialen Netzwerken darüber diskutiert, wem der Begriff Klassische Reitkunst gehört (man bedenke hier, dass man Weisheit lediglich pachten darf, Begriffe darf man plötzlich besitzen? ;-)…)
Nutzen der Mode für den Reiter?
Es ist gut, dass es verschiedene Modeströmungen gibt. Es gibt unglaublich fantastische Formulierungen, es gibt tolle Innovationen und Individualisten.
Was mir mit Verlaub manchmal ein bisschen fehlt ist der kritische Blick. Aber wie soll man kritisch schauen, wenn man selbst ja auch zu den Lernenden gehört?
Sowohl die stechende Art die Pferdebeine zu heben, als auch eine schwebende Art (die Alten Meister warnten übrigens vor Schwebetritten – und wer weiß schon, ob die auch Recht hatten, Verdammt?…) – alle diese Arten die Beine zu heben sind künstlich – wenn wir wirklich wissen wollen, wie sich ein Pferd in der Natur selbst schön und prächtig fühlt, dann schauen wir genauer hin.
Schauen wir hin, ob das Pferd dann auch Metall im Maul braucht, ob es tatsächlich einen Unterhals machen darf, ob die Hinterbeine tatsächlich nur noch sehr kurz nach vorne treten, wie lange das Pferd eine gewisse Haltung beibehält. Ob sich das Pferd in Zeitlupe oder im extremer Geschwindigkeit fortbewegt. Ob die Vorderbeine frei nach vorne schwingen? Ob Gelenke entsprechend ihrer natürlichen Biomechanik tatsächlich Federkraft besitzen oder nicht? Und überlegen wir, ob sich unser Pferd in dieser Haltung tatsächlich schön und stolz fühlen würde, wenn wir das mit den Bildern auf der Weide vergleichen.
Der beste Lehrmeister ist und bleibt einfach das Pferd. Werden wir bloß nicht zu den Schneidern, die dem Pferd gar „unsichtbare“ Klamotten aufschwatzen wollen.
Kleider machen Leute?
Passt dieser Artikel zu einem Autor, der sich ja auch auf eine Reitweise festgelegt hat? Nun ja, für mich bedeutet akademische Reitkunst eben nicht alles so hinzunehmen wie es ist. Im Studium der Kommunikationswissenschaft fand ich es mässig spannend Hypothesen zu formulieren und empirisch zu überprüfen – in der akademischen Reitkunst darf ich meinen Entdeckungsdrang ausleben und eine Leidenschaft mit Gleichgesinnten teilen – und nein – auch hier wird eine Hypothese keinesfalls so formuliert, dass sie der eigenen Erwartungshaltung gerecht wird. Das wiederum wäre ein Schuh, den ich mir und meinen Kollegen nicht anziehen möchte – womit wir wieder bei diesen ominösen Kleidern und der Mode wären.
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