Was ist eigentlich Losgelassenheit? Was bedeutet Losgelassenheit für den Reiter? Und wie werden unsere Pferde losgelassen, wenn da ständig Gespenster in der Hallenbande sitzen?
Befragt man einige Reiter, dann werden wir viele verschiedene Definitionen von Losgelassenheit bekommen. Ebenso würde es uns wohl auch gehen, wenn wir eine Umfrage zum Thema „Liebe“ starten.
Für die einen ist Losgelassenheit ein Zustand mentaler Entspannung, für die anderen ist Losgelassenheit eng verbunden mit Durchlässigkeit und dem Fluß der Hilfen. Dann wiederum gibt es die Diskussion, ob beispielsweise Balletttänzer gänzlich Losgelassenheit ihre Künste vollführen können.
Losgelassenheit beinhaltet für mich beide Komponenten: Ich kann Energie und Kraft abfragen, gleichzeitig aber auch wieder ganz schnell zur Ruhe kommen. Daher sind auch die Übergänge nach der Versammlung so interessant. Kann ein Pferd nach einer Aufgabe mit hoher Versammlung anschließend taktklar im Schritt am hingegebenen Zügel eine Runde drehen? Wenn ja dann spricht das für Losgelassenheit, Zufriedenheit, Einheit und Vertrauen zwischen Mensch und Pferd.
Einige Definitionen von Losgelassenheit
„Losgelassenheit beruht zum Teil auf Kooperationsbereitschaft und Balance, so dass kein Widerstand aufgebaut wird, der zu Versteifungen führen könnte. Das Pferd muss entspannen, um sich von Ihnen formen lassen zu können. Losgelassenheit ist absolut notwendig, wenn Sie ihr Pferd gesund erhalten möchten“.
Bent Branderup, Akademische Reitkunst
Waldemar Seunig beschreibt Losgelassenheit als eine höhere Stufe der Zwanglosigkeit:
Waldemar Seunig, von der Koppel zur Kapriole
„Sie entsteht aus dieser und der durch aktive reiterliche Einwirkung (Treiben) geweckten Energie des Ganges. …Zwanglos kann ein Pferd schon gehen, ohne noch den lang hingehaltenen Zügel gefunden zu haben; losgelassen aber erst dann, wenn es infolge der treibenden Hilfen sein bisher im natürlichen Trabe zwar zwanglos aber nur matt schwingenden Muskeln angesprochener und energischer an und abspannt, und, sich dehnend, diesen Zügel aufgesucht hat, um sich an ihm und dem Sitz loszulassen.“
Wie fühlt sich ein Pferd an, das losgelassen ist?
Balance, Losgelassenheit, Durchlässigkeit, Tempo, Takt, Schwung und Formgebung sind die wichtigsten Eckpfeiler unserer Ausbildung. Losgelassenheit fängt immer an mit Kommunikation.
Für mich bedeutet Losgelassenheit:
- Das Pferd wendet sich seinem Menschen vertrauensvoll zu
- Das Pferd möchte seinem Menschen zuhören
- Das Pferd hat gelernt, dass Kommunikation keine Einbahnstraße ist
- Das Pferd kann sich gut konzentrieren und lässt sich von äußeren Einflüssen nicht ablenken
- Das Pferd kann losgelassen sein, weil der Reiter es nicht überfordert, es erhält Aufgaben, die es physisch und mental nicht überfordern
- Physische Überforderung ist nicht der Fall, die gesamte Muskulatur des Körpers arbeitet gut zusammen, somit bewegt sich das Pferd vor/neben/hinter/unter seinem Reiter losgelassen und zwanglos.
- Der Reiter kommt somit zum Sitzen
Losgelassenheit – ein Rechenbeispiel
Kann ein Pferd losgelassen sein, aber nicht im Takt? Kann ein Pferd im Tempo diverse Diskrepanzen zeigen? Einmal legt es zu, einmal „verhungert“ es? Kann ein Pferd undurchlässig für Hilfen sein, trotzdem aber losgelassen? Auf meinen Kursen gehe ich immer wieder mit meinen Schülern durch, was wir „Haben“ und was auf der „Soll“-Seite fehlt.
Ich kann beispielsweise ein Pferd mit einem sehr guten Taktgefühl haben, es tänzelt auf der Stelle und versetzt den Zuschauer in Staunen mit seiner ausdrucksstarken und taktklaren Piaffe. Doch schauen wir genauer hin. Ist der Ausdruck tatsächlich losgelassen? Das Pferd hat zwar ein gutes Taktgefühl, jedoch erscheint die Ausführung des Zweitakts keinesfalls mühelos. Ist die Frequenz vielleicht zu hoch? Würde sich das Pferd mit einer etwas längeren oder kürzeren Standbeinphase wohler fühlen? Das Pferd wirkt gestresst, es schwitzt stark. Die Oberlinie ist verspannt, Formgebung ist nicht gegeben, die Ohrspeicheldrüse ist nicht frei, das Pferd ist recht eng in der Ganasche, Auge und Maul sind weit geöffnet. Die Ohren sind angespannt und pendeln nicht locker nach unten. Wir haben zwar einen Takt, jedoch entspricht dieser nicht dem Ideal der Losgelassenheit. Weitere Elemente der Reitkunst fehlen uns bei diesem Beispiel.
Das Problem: Nicht jedes Element kann für sich alleine hinzugefügt und erarbeitet werden. Es ist wie beim Mischen von Farben. Möchte man Blau, dann braucht man Gelb und Grün.
Möchte man Losgelassenheit, dann braucht man mentale und physische Balance. Losgelassenheit ist ein wichtiger Baustein in Punkto Vertrauen, Beziehungsarbeit und Kommunikation. Losgelassenheit bedeutet immer, das ein gewisses Verständnis da ist.
Am Anfang steht die Beziehungspflege – und die Routine
Routinen sind für Pferde ein wichtiger Faktor für und wider Losgelassenheit.
Ich kannte Pferde im Unterricht, die sofort nach dem Betreten der Bahn ihr Programm abspulten, egal ob das nun Piaffe oder Spanischer Schritt sein sollte. Das Programm „sitzt“, die mentale Verspannung trat nach wenigen Sekunden ein. Losgelassenheit war auch aufgrund der Erwartungshaltung von Lob oder Tadel nicht gegeben.
Wenn wir mit unseren Pferden ein Klassenzimmer betreten, dann liegt es an uns als Pädagogen wie wir den Raum gestalten wollen. Geben wir dem Pferd viel Raum? Darf es sich ausdrücken und hören wir ihm zu? Darf es auch mal nein sagen, wenn die Grenzen des Fassbaren und des Verständnis erreicht sind? Darf es auch Zweifel zeigen, wenn es glaubt, die Aufgabe physisch nicht bewältigen zu können?
All diese Faktoren sind für den Baustein der Losgelassenheit immens von Bedeutung.
Als Ausbilder unseres Pferdes dürfen wir eine Hilfe heute nicht so und morgen anders erklären. Pferde sind unheimlich entspannt mit Routinen, sie können sich gut lolassen und gut konzentrieren, wenn der gewohnte Ablauf nicht unterbrochen wird. Und das betrifft längst nicht alleine die Fütterung sondern auch die Routine, die wir Zweibeiner an den Tag legen.
Es ist daher sehr ratsam auch auf die eigene Losgelassenheit großen Wert zu legen. Wer mit seinen Gedanken ständig woanders ist, wer physisch stark verspannt und abgekämpft in den Stall kommt, der sollte vielleicht an diesem Tag nicht aufs Pferd steigen. Das bedeutet also nicht, dass wir jeden Tag das gleiche Programm für unser Pferd planen müssen, aber dass wir auf jeden Fall verlässlich sind, in dem Vorhaben jeden Tag der beste Trainer für unser Pferd zu sein.
Das Pferd möchte auch das Beste geben, manchmal kann es das aber aus verschiedenen Gründen nicht:
Der Rücken lässt nicht los
Ein junges Pferd kann noch so gut auf Sattel und Reitergewicht vorbereitet sein. Bei den ersten Reitversuchen wird es möglicherweise die gelernten Inhalte aus der Bodenarbeit vergessen und den Reiter mal mit dem Rückenmuskel hochstemmen. Das funktioniert, allerdings – jeder, der schon mal etwas Schweres gehoben hat, ohne die Bauchmuskeln zu betätigen weiß – wird die falsche Muskelkette aktiviert, dann bedeutet dies unweigerlich Muskelkater. Muskelkater ist eine Sache, die immer auch gelernt werden kann. Je häufiger Muskelverspannungen mit dem Training verbunden werden, umso häufiger setzt auch schon vorab eine mentale Verspannung ein, bevor es überhaupt los geht.
Ein weiteres Beispiel: Unser Pferd ist mit enorm viel Bewegung ausgestattet, es gelingt dem Reiter nicht die Standbeinphase dermaßen zu verkürzen, so dass eine optimale Kraftübertragung vom Hinterfuß, der eben am Boden stand in das Becken und weiter in die Wirbelsäule übertragen werden kann. Der Vorgriff ist marginal, das Pferd fällt auf die Schultern. Der Reiter spürt diesen Niederschlag unbequem im Sattel und wird regelrecht nach vorne gestoßen. Aussitzen wird zu einer prellenden Angelegenheit. Losgelassenheit ist bei Reiter und Pferd eine große Fehlanzeige
Beispiel, Nummer 3: Der Brustkorb des Pferdes sollte sich bei korrektem Schwung dreidimensional bewegen, also auf und ab, vor und zurück und in Rotation. Was, wenn allerdings das Auf und Ab des Brustkorbes so gering ist, dass die Bewegung vorwärts und rückwärts dominiert? Der Rückenschwung büßt an Qualität ein, der Reiter hat das Gefühl, als laufe das Pferd Pass. Der Reiter spürt zwar wenig Bewegung, bekommt aber trotzdem nach und nach Schmerzen in der Lendenmuskulatur. Die Atmung wird bei Mensch und Pferd fest.
Die Bauchmuskeln arbeiten auch bei diesem Beispiel nicht dem Ideal entsprechend. Dabei sind sie ein wichtiger Teil des Atmungssystem. Wenn sie sich zusammen ziehen pressen sie Luft aus der Lunge. Dass die Bauchmuskeln im Trab oder Galopp anders arbeiten, hören wir demnach auch bei der Atmung. Wenn das Pferd abscnaubt, dann sind die Bauchmuskeln beteiligt, das Abschnauben ist dann ein Zeichen für Losgelassenheit.
Woran scheitert die Losgelassenheit?
Der erste Weg zur Losgelassenheit führt, wie schon beschrieben über das Verständnis. Wir entwickeln eine Beziehung zu unserem Pferd. Wir arbeiten an einer gemeinsamen Kommunikation. Wie oft haben wir schon gehört, der Fehler, der sitzt immer im Sattel. Daher müssen wir bei mangelnder Losgelassenheit als erstes uns selbst unter die Lupe nehmen.
Erst dann folgt die Suche beim Pferd.
Mangelnde Losgelassenheit kann dann vielfältige Ursachen, abseits der Ausbildungsfehler des Menschen haben:
Das Kiefergelenk oder Zahndefekte, Haken an den Zähnen und eine somit verspannte Kiefermuskulatur kann sich negativ auf den gesamten Bewegungsapparat auswirken. Hat das Pferd nicht gelernt, sich an die Hand des Reiters heranzudehnen und die Verbindung zu suchen oder sind Schmerzen die Ursache für ein Verkriechen hinter der Hand – die Ursache kann mannigfaltig sein, das Ergebnis sehen wir jedoch in mangelnder Losgelassenheit und einer falschen Leichtigkeit. Die Hinterhand ist in ihrer Tätigkeit eingeschränkt. Eine Schwungübertragung durch den gesamten Körper ist nicht mehr möglich.
Auch Blockaden am Widerrist können staksige, kurze Schritte hervorrufen. Verklebte Faszien im Bereich des Schultergelenks tun ihr Übriges dazu. Es kann viele körperliche Ursachen geben, der Reiter muss hier seinen gesamten Spürsinn einschalten. Nicht immer ist sofort der Sattel als Sündenbock ausgemacht – auch die Haltungsbedingungen spielen eine große Rolle bei mentaler und physischer Losgelassenheit. Werden die Pferde beispielsweise zwar viel draußen gehalten und das bei einem 24 Stunden langen Zugang zu Rauhfutter, bleibt trotzdem noch die Frage zu klären: Wie erhaltend die Pferde das Futter? Können sie möglichst bodennah fressen oder sind die Heunetze hoch befestigt und das Pferd muss den Kopf schräg und schief halten?
Von der Haltung, über die Fütterung, über die Bewegung in „Freizeit“ und während der Arbeit – alles muss unter die Lupe genommen werden, um die Ursache für mangelnde Losgelassenheit auszumachen.
Vier Beispiele zum Thema Losgelassenheit
Meine Trakehnerstute Tabby hat generell einen eher höheren Muskeltonus. Als ehemalige Mutterstüte „kümmert“ sie sich gerne um ihre kleine Herde, ist aber auch ständig in Alarmbereitschaft. Die Verantwortung abzugeben, sich auch bei einer ostheopatischen Behandlung fallen zu lassen – das fällt ihr immer sehr schwer. Da sie die Hilfen verstanden hat und auch gerne dem Reiter entgegen kommt, gilt es nun, ihr zu zeigen, dass alle Inhalte auch mit weniger Kraftaufwand umsetzbar sind. Bei Tabby kommt die mentale Losgelassenheit unmittelbar durch die physische Losgelassenheit.
Przedswit Pina ist sehr besorgt. Einerseits möchte sie unbedingt alles richtig machen. Andererseits hat sie unfallbedingt einen Beckenschiefstand, der den Rücken und korrekten Rückenschwung zur Problemzone macht. Am besten löst sich Pina im Galopp. Sie liebt es zu galoppieren, hier kann sie sich wirklich mental entspannen und auch körperlich loslassen. Pina nimmt auch gerne viele Aufgaben vorweg, sie wartet nicht immer auf ihren Reiter – manchmal hilft es ihr auch die Verantwortung zu übertragen. So bitte ich sie bei Aufgaben wie den fliegenden Wechseln auf mich zu warten, bei anderen Inhalten, die uns beiden vertraut sind, übertrage ich ihr die Verantwortung. Das fördert das Selbstbewusstsein, die Selbstsicherheit und die Losgelassenheit bei Pina.
Mein Lipizzaner Konrad ist sehr übereifrig und motiviert. Er versteht jede Aufgabe sehr schnell und möchte unbedingt gefallen. Seiner Meinung nach kann man im Klassenzimmer sein, aber trotzdem auch alles, was draußen passiert mitbekommen. Auch er ist Chef seiner kleinen Herde, daher ist es auch für ihn ein Thema Verantwortung abzugeben. Zuzuhören und sich nicht „wegzubeamen“. Wenn wir Denkpausen einlegen, dann schleckt Konrad gerne mein Hand ab, dabei wirkt sein Gesichtsausdruck sehr in sich gekehrt und weit weg. Ich war mir lange nicht sicher, ob er nachdenkt, ob er Dinge verarbeitet? Irgendwann war auch hier klar, dass nicht jede Übung und Aufgabe, die scheinbar mit Leichtigkeit ausgeführt wird, tatsächlich schon von mentaler Losgelassenheit begleitet wurde. Daher ist es wichtig, ein sehr motiviertes Pferd nicht zu überfordern, auch wenn es die Aufgaben willig „spendiert“. Was haben wir getan? Immer das „Erregungslevel“ genau im Auge behalten. Bei bekannten Aufgaben fordere ich Konzentration, bleibe schon mal stehen und wir atmen gemeinsam an eine bestimmte Stelle im Körper. Die gemeinsame Zeit ist geprägt durch Einheiten, wo wir spielerisch unterwegs sind, Einheiten wo wir sehr konzentriert arbeiten und immer ganz wichtig – Konrads Meinung zählt auch. Versammlung ist etwas, wo sich Konrad stolz und erhaben fühlt, aber es strengt ihn auch mental an. Daher frage ich immer nach, ob Konrad die Einheit durch ausgiebiges Wälzen und eine Runde Schritt beenden möchte. So haben wir auch ein Erregungslevel in mentaler Hinsicht nie überschritten.
Lipizzaner Amena ist sehr deutlich in der Kommunikation. Er ist eigentlich auch sehr eifrig und verfügt über große mentale und physische Losgelassenheit, da er unheimlich selbstsicher und in sich ruhend ist. Das war bei Konrad auch lange der Fall, daher bin ich gespannt, ob Amena diese Sorglosigkeit auch in der Pubertät beibehält. Im Grunde hat die Erfahrung aber mit Konrad schon wieder viel zur Ausbildung von Amena beigetragen. Amena kann sich sehr leicht loslassen, viel positive Bestätigung hat immer zur mentalen Losgelassenheit beigetragen.
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