Für viele Kinder und Jugendliche heißt es jetzt: Zurück an die Schulbank. Tausche den Sommer draußen, die Natur gegen Schule? Muss nicht komplett sein. Lernen kann man auch mit Pferden – vor allem, wenn es darum geht ein paar Hürden zu überwinden.
Meine Schülerin Sandra Tiefengraber hat sich auf das Lernen von und mit Pferden spezialisiert – aber wie funktioniert das genau und wie können uns Pferde eigentlich mental stärken?
Sandra Tiefengraber: Indem sie uns ein ehrliches Feedback von uns selbst geben. Pferde verstellen sich nicht, sie reagieren spontan auf uns und unsere Emotionen. Unsere Schwächen und Stärken werden unverfälscht aufgezeigt. Es liegt an uns, diese Informationen zu verarbeiten. Pferde schaffen es fast im selben Atemzug, uns auf den Boden der Tatsachen zurückholen um uns im nächsten Moment Flügel wachsen zu lassen – sofern wir uns darauf einlassen 😉
Beim easy riding – easy learning Lerntraining (EREL) verlegen wir den Schreibtisch in die Natur. Mit unseren Pferden, Bewegung in der Natur und ganz viel Spaß geht alles viel leichter. So werden Rahmenbedingungen für das Lernen geschaffen, die das Gehirn mit allen Sinnen und Freude trainieren. Gelerntes kann dauerhaft gespeichert werden und ist so auch unter Stress wieder abrufbar.
Kinder lernen grundsätzlich sehr gerne, manchmal braucht es jedoch zusätzliche Unterstützung in Form eines Lerntrainings oder im Speziellen ein Legasthenie- und/oder Dyskalkulie-Training.
Eine Lernschwäche ist meist vorübergehend, die Ursachen können physische oder psychische sein, das familiäre Umfeld, Unterrichtsmethoden, Lerndefizite etc.
Spezielle Lernschwächen, wie Legasthenie (Lesen, Schreiben) und Dyskalkulie (Rechnen) – sind genbedingt schon bei der Geburt als Anlage vorhanden.
Kinder bzw. Menschen mit Lernstörungen (Legasthenie, Dyskalkulie) sind normal bis überdurchschnittlich Intelligent, oft sehr kreativ und hochbegabt – aber keineswegs faul oder dumm! Es handelt sich auch um keine Krankheit oder Behinderung. Durch ihre differenzierten Teilleistungen empfinden sie anders und nehmen ihre Umwelt einfach anders wahr. Dadurch ergibt sich beim Erlernen von Lesen/Schreiben/Rechnen ein individueller Zugang. Wichtig ist, die Anzeichen so früh wie möglich zu erkennen, so ist z.B. die Krabbelphase ein sehr wichtiger Abschnitt für die Entwicklung der Schreib- und Lesekoordination. Oft wird diese Krabbelphase bei Legasthenikern kaum ausgelebt oder sogar ausgelassen.
Wie sieht ein Lerntraining konkret aus?
Sandra Tiefengraber: Abgestimmt auf die individuellen Bedürfnisse der Teilnehmer findet das gezielte Lese-, Rechtschreib- und Rechentraining (unter anderem mit Symptrain© – Technik zur Zahlen-, Buchstaben- und Wortbildspeicherung) sowie das spezifische EREL-Teilleistungstraining statt. Bei den Teilleistungsbereichen geht es um Sinnesleistungen/Wahrnehmungsbereiche, die man beim Lesen, Schreiben und Rechnen braucht:
- optische Differenzierung: Gleiches und Ungleiches erkennen und auseinander halten
- optisches Gedächtnis: Gesehenes merken und gegebenenfalls wiedergeben
- optische Serialität: Gesehenes der Reihe nach ordnen zu können
- akustische Differenzierung: die Fähigkeit, Unterschiede zu hören
- akustisches Gedächtnis: Gehörtes abspeichern und gegebenenfalls wiedergeben
- akustische Serialität: die Reihenfolge des Gehörten merken und wiedergeben
- Raumorientierung: räumliche Beziehungen richtig wahrnehmen
- Körperschema: Basis für die Raumorientierung, vorne/hinten, unten/oben, rechts/links
Bereits beim Putzen der Pferde werden spielerisch Teilleistungsbereiche trainiert. Dazu eignen sich, um eines von vielen Beispielen zu nennen, verschiedenfarbige Bürsten. Die Kinder suchen nach Anweisung das richtige Putzzeug, gehen zum Pferd und fangen an der ihnen zugewiesenen Seite zu putzen an (optische Differenzierung, Raumlage, Körperschema).
Bunte Schwimmnudeln sind eine tolle Hilfe für das optische Gedächtnis, akustische/optische Serialität und die Raumlage. Es wird eine Farbreihe vorgegeben, und die Kids erhalten die Aufgabe, diese mit dem Pferd in der richtigen Reihenfolge zu überqueren. Es ist äußerst spannend zu beobachten, dass sich Kinder zu Beginn des Trainings oft nur 2 bis max. 3 Farben merken können, sich die Merkfähigkeit und Konzentration im fortgeschrittenen Trainingsstand jedoch deutlich steigern!
Der Schritt der Pferde eignet sich toll für Übungen im akustischen Bereich.
Es bereitet den Kindern sehr viel Freude, auf dem Pferd den Takt des Pferdeschritts mit zu trommeln.
Für welche Kinder ist das Lerntraining mit Pferden geeignet?
Sandra Tiefengraber: Für alle Kinder! Im Speziellen profitieren natürlich besonders Kinder mit Lernblockaden, Teilleistungsschwächen, Legasthenie, Dyskalkulie, Schulangst, Prüfungsangst, Stress etc.
Das Training mit Pferden fördert die Motorik und Feinmotorik, löst Spannungen und stärkt das Selbstbewusstsein. Konzentration und Ausdauer werden gesteigert. Es verbessert das Körpergefühl, Kinder müssen oft erst lernen, sich im Raum zu orientieren und ihren Körper kennenlernen. Das klappt mit den Pferden natürlich wunderbar. Aber auch die Integration von rechter und linker Gehirnhälfte, vorne/hinten, unten/oben.
Gerade im Bereich der Motorik/des Körpergefühls kann es auch bei Kindern ohne nachgewiesene Lernstörungen/Lernschwächen Defizite geben.
Die Kids verbringen heutzutage leider sehr viel (oft zu viel) Zeit vor TV-Computer-Handy. Kombiniert mit einer ungesunden Ernährung steigert sich der negative Einfluss auf die Entwicklung des Gehirns weiter.
Wie erlebst du deine Pferde in solch einer Situation?
Sandra Tiefengraber: Erstmal von Pferd zu Pferd Grund verschieden 😉 Ich bin meinen Pferden unendlich dankbar, dass sie so einen großartigen Job leisten.
Santos ist ja bereits 22 Jahre und bringt entsprechend viel Erfahrung mit. Für ihn ist es ein toller Herzensjob und seine Berufung. Er ist sich seiner wichtigen Aufgabe sehr bewusst und spiegelt die Kinder auf charmante Weise J Am liebsten arbeitet er mit Kindern, die sehr wenig bis gar kein Selbstvertrauen mitbringen. Durch seine riesige Erscheinung und seine liebenswerte Art ist er unser „Selbstwert-Pusher“. Nach nur wenigen Einheiten auf ihm scheint es für viele Kids, dass die Sterne greifbar sind. Santos wird dadurch natürlich zum Held, und er genießt es, betüddelt und geliebt zu werden 🙂
Stellato steht mit seinen 8 Jahren noch am Beginn seiner Ausbildung zum Co-Trainer bei den Lerntrainings. Er geht irrsinnig offen auf Kinder zu und passt auch entsprechend gut auf. Er schafft es, schüchterne Kinder aus ihrem Schneckenhaus zu holen da er einfach ein Prinz-Charming ist.
Amigo, 11 Jahre alt, ist anders als alle anderen 😉 Er leistet bei nervösen oder hyperaktiven Kindern seinen wertvollen Beitrag. Ist jemand auf seinem Rücken angespannt und nervös, beginnt auch er flach zu atmen und verliert den Takt. Den Kindern fällt dies sehr rasch auf und sie fragen sich natürlich warum… Hier kommen Atem- und Ruheübungen – verpackt in einer netten Geschichte um Amigo – zum Einsatz. Binnen kürzester Zeit geht Amigo wieder ruhig im Takt, senkt den Kopf und beginnt abzuschnauben wie eine alte Dampflok – die Kids finden das lustig und absolvieren die restliche Einheit meist ohne dass ein weiteres Zeichen von Amigo nötig wäre.
Wohin der Weg von Amor führt, wird die Zeit zeigen 😉
Welche Veränderungen sind bei den Kindern festzustellen?
Sandra Tiefengraber: Vorweg muss hier erwähnt werden, dass jede Art von Lernstörung Stress verursacht. Betroffene Kinder kämpfen quasi vom Stammhirn aus ums Überleben!
Stress ist zwar überlebensnotwendig, wenn z.B. ein großer Felsbrocken auf uns zurollt und wir ausweichen müssen. Er kann uns in alltäglichen Situationen jedoch auch behindern und uns krankmachen – wo wir doch eigentlich nur lernen wollen!
Stress ist das, was uns antreibt – aber auch das, was uns blockiert!
Die Veränderung der Kinder durch das Lerntraining ist enorm! Sie finden wieder Freude am Lernen und brechen aus alten Mustern aus. Das Tolle ist, dass es sehr viele Übungen – speziell im mentalen Bereich – gibt, die sie eben auch in Stress-Situationen abrufen können. Sei es im „normalen“ Schulalltag oder in besonderen Situationen wie Prüfungen, Schularbeiten etc. Und selbstverständlich auch im Alltag und ihr restliches Leben.
Was hast du von deinen Pferden gelernt?
Sandra Tiefengraber: Bei weitem noch nicht alles 😉 Die wichtigsten Lehren erteilen sie mir Tag für Tag aufs Neue: ehrlich zu mir selbst zu sein und zu meinen Gefühlen zu stehen. Santos läuft in Windeseile von mir weg, wenn er merkt, dass es mir eigentlich nicht gut geht und ich dies in mich hineinfresse oder vertuschen möchte.
Charakterliche Grundzüge des anderen zu akzeptieren und einfach anzunehmen lehrt mich Amigo. Vieles geht seit dieser Erkenntnis wie von selbst. Wir sind wahrscheinlich beide manchmal nicht so einfach, seit wir uns jedoch so annehmen wie wir sind, vor allem ich ihn, haben wir eine sehr harmonische und ausgeglichene Pferd-Mensch-Beziehung.
Amor lehrt mich wie kein anderes Pferd Geduld, Ruhe und auch ein kleines bisschen Nachsicht.
Stellato wohnt erst ein halbes Jahr bei uns, derzeit genieße ich einfach die gemeinsame Zeit mit ihm, seine Lehren werden bestimmt noch kommen 😉
Das Tolle ist, dass mir alle 4 Pferde tagtäglich unterschiedliche Spiegel vors Gesicht halten. Die Erkenntnisse sind manchmal belustigend, dann aber auch wieder traurig und schmerzvoll. Wichtig ist, nicht still zu stehen, ein Leben lang die Freude am Lernen zu bewahren (oder wiederzufinden) und immer weiter an sich selbst arbeiten zu wollen – auch einmal das eigene Ego zu verdrängen und bewusster im Hier und Jetzt zu leben.
Gibt es Einschränkungen beim Alter bei den Kindern in Bezug auf die Teilnahme?
Sandra Tiefengraber: Es gibt keine Alterseinschränkungen bei den Kindern. Kindergartenkinder profitieren ebenso von einem EREL-Training – z.B. in Hinblick auf eine frühzeitige Erkennung von Teilleistungsschwächen – wie Volksschulkinder oder Kinder höherer Schulstufen.
Was können Erwachsene für ihren Alltag mitnehmen?
Sandra Tiefengraber: Erwachsene lernen im besten Fall, dass es nie zu spät ist zu beginnen! Manchmal braucht es besondere Wege, um sich seiner Probleme zu stellen. Was für Kinder gilt, verliert auch im Erwachsenenalter nicht seine Gültigkeit – aus alten Mustern auszubrechen, wieder Freude am Lernen zu erfahren und im Hier und Jetzt zu leben stehen auch hier im Vordergrund.
Gehen die Pferde unterschiedlich mit ihren Schülern um – also gibt es Unterschiede zwischen Kind oder Erwachsener?
Sandra Tiefengraber: Nicht immer, aber doch sehr oft. Meine Pferde sind mit Kindern viel nachsichtiger und geduldiger. Kinder leben für den Moment und zerdenken Dinge nicht ständig, sie lassen sich viel offener und aufrichtiger auf die Pferde ein, das spiegelt sich natürlich auch im Training wider.
Santos ist der einzige, der mit Kindern besser kann. Kinder sind einfach sein Ein und Alles.
Lernen wir mit Pferden, dann Lernen wir Einfach 😉
Vielen Dank an Sandra Tiefengraber für dieses herzliche und motivierende Interview. Mehr über Sandras Arbeit gibt es auf Ihrer Website.
Es ist eine tolle Idee über Pferde bzw. das Reiten Probleme wie Prüfungsangst oder Schulstress anzugehen. Der Zugang zu Tieren und zur Natur ist leider für viele Kinder heute nicht mehr selbstverständlich. Toller Artikel, Danke!