Es war einmal: Die Geschichte des Schulterherein

Schulterherein wird noch heute – vor allem bei den Vertretern der klassischen Reitkunst als „Aspirin der Reitkunst“ bezeichnet. Bei Dressurturnieren wird das Schulterherein jedoch erst in den fortgeschrittenen Klassen verlangt. Im Gegensatz dazu wird in der Akademischen bzw. der Klassischen Reitkunst bereits sehr früh mit der Ausbildung des Schulterherein begonnen. Das Schulterherein bildet mit seiner versammelnden, wie auch lösenden Wirkung nach Alois Podhajsky:

„nicht nur das Rückgrat für die Ausbildung in den übrigen Seitengängen, sondern ist auch für das Geraderichten des Pferdes von ausschlaggebender Bedeutung“.

François Robinchon de la Guérinière, (* 1688, † 1751)

Historisch gesehen wird der Franzose de la Guérinière oft als Vater des Schulterherein genannt. Guérinière kann allerdings als Vater des Schulterherein auf geraden Linien bezeichnet werden. Der französische Reitmeister schreibt  über das Schulterherein in seinem 1733 erschienen Buch: „Ecole de Cavalerie“:

„Diese Übung hat sofort eine so vortreffliche Wirkung, dass ich sie als die erste und letzte aller Lektionen ansehe, in denen man ein Pferd unterrichten muss, um ihm Geschmeidigkeit und vollkommene Freiheit in allen seinen Körperteilen zu verschaffen. Es ist sogar so, dass wenn ein nach diesem Verfahren gymnastiziertes Pferd später in der Reitbahn oder auch sonst durch einen Unwissenden verdorben wird, und ein guter Reiter es wieder einige Tage in dieser Lektion arbeitet, er es genauso gelenkig und leicht finden wird wie vorher. Erstens entbindet das Schulterherein die Schultern, weil das Pferd bei jedem Schritt, den es in dieser Stellung macht, mit dem inneren Vorderbein vorwärts über das äußere schränkt, und den inneren Fuß über und auf die Linie des äußeren Fußes setzt. Es ist leicht zu begreifen, dass durch dieses Bewegung, welche die Schulter in dieser Stellung zu machen genötigt ist, alle Triebfedern dieses Teils in Tätigkeit gesetzt werden. Das Schultereinwärts bereitet das Pferd vor, sich auf die Hanken zu setzen, denn bei jedem Schritt, den es in dieser Stellung tut, bringt es den inneren Hinterschenkel unter den Leib, und setzt ihn über den äußeren, welches es, ohne die Hanken zu setzen nicht verrichten kann“.

William Cavendish, Duke of Newcastle (* 1592; † 25. Dezember 1676)

De la Guérinières Buch erschien 1733. Blicken wir in der Geschichte 70 Jahre weiter zurück, finden wir das Schulterherein allerdings bereits beim Duke of Newcastle in seinem Werk „A central system of horsemanship“, das 1685 erschien auf dem Zirkel geritten beschrieben. Newcastle betont hier mit der Lektion „Kopf in die Volte“ die Bedeutung der Mobilisierung und Vorrichtung der Pferdeschultern, um das innere Hinterbein stärker nach und nach in Richtung Versammlung zu belasten und zu kräftigen:

„…so bedienet Euch der beiden Schenkel, haltet es mit dem auswendigen in Gehorsam und mit Eurem inwendigen Schenkel treibet den inwendigen hinteren Fuß noch zu dem auswendigen Hintern Fuß hinaus, so muss es die Hüften biegen, dann die hinteren Schenkel kommen unter den Bauch hinunter, und indem die Füße zusammengedrücket sind, so kann das Pferd leichter auf den Hüften bleiben“.

Gustav Steinbrecht (* 1808; † 1885)

Gustav Steinbrechts „Gymnasium des Pferdes“ gehört noch heute in jede gute Reitbibliothek. Steinbrecht warnte in seinem Werk davor, anfangs ein Zuviel an Seitwärts zu fordern bzw. den Inhalt der Lektion durch den vorherrschenden Gedanken des Seitwärts zu vernachlässigen:

„Es ist daher sehr fehlerhaft, wenn Reiter im Anfang der Schulterherein-Arbeit ihre Pferde mit dem inneren Sporn gewaltsam seitwärts treiben, weil sie glauben, Weichen auf den Sporn und Übertreten seien Zweck der Übung…….Richtiges Schulterherein als Grundpfeil der der Dressur macht allerdings die Schultern und mit ihnen die gesamten Glieder des Pferdes frei, nicht aber durch die Seitwärtsbewegung, sondern durch Biegung und Versammlung, die hierbei bedingt sind“.

Seine Empfehlung zur Ausbildung lautete daher, die Abstellung nur stufenweise zu vergrößern. Steinbrecht begann also mit Schultervor, wobei hier die äußere Schulter nur soweit von der Bande weggeführt wird, dass die innere Schulter eben vor die innere Hüfte gerichtet wurde.

Kein Aspirin ohne Beipackzettel

Und heute? Das Schulterherein ist eine Seitwärtsbewegung, in der das Pferd – je nach Lehre auf 3 bis 4 Hufschlägen mit der Vorhand in Richtung Bahnmitte gestellt wird. Durch das Absenken der inneren Hüfte im Schulterherein werden die Hanken vermehrt gebeugt, daraus ergibt sich ein vermehrtes Freiwerden oder Erheben der äußeren Schulter, da das innere Hinterbein mehr Last aufnimmt. Der äußere Rückenmuskel wird gedehnt, das Genick wird lockerer, die Verbindung zum inneren Zügel wird leichter. Aus dieser Definition wird deutlich, warum das Schulterherein oftmals als „Aspirin der Reitkunst“ bezeichnet wird.

Beim Geraderichten kommt dem Schulterherein die besondere Bedeutung zu, da dies durch das Ausrichten der Schulter auf die Hinterhand bzw. die Ausrichtung der Hinterhand auf die Schulter erreicht wird.

Die Aufgabe des Schulterherein besteht darin, dem Pferd beizubringen, mit dem inneren HInterbein unter seinen Schwerpunkt hineinzugreifen. (Bent Branderup)

Hat ein Pferd Schwierigkeiten sich an den äußeren Zügel heran zu dehnen, kann dies auch durch das Schulterherein verbessert werden, schließlich soll sich der innere Rippenbogen vermehrt absenken, die Innenseite der Bauchmuskeln kontrahiert, die äußere Seite des Pferdes dehnt sich so vermehrt an den Zügel.

Wie man Schulterherein übt…

In der Akademischen Reitkunst lernt das Pferd alle Seitengänge zuerst vom Boden aus. Das kann in der Bewegung, wie im Stehen passieren. Wenn das Pferd die indirekten Zügelhilfen (über den inneren und äußeren Zügel) verstanden hat, kann man die Schultern bereits im Stehen zwischen den Zügeln bewegen. Der Reiter steht dabei seitlich neben dem Pferd, zu Beginn meist auf der inneren Seite (dort, wo man normalerweise sitzen würde) und führt über den äußeren Zügel das Gewicht auf das innere Vorderbein und über den inneren Zügel die Schulter wieder nach draußen. Das Pferd sollte bei dieser Übung keinen Schritt zur Seite machen – es geht hier lediglich um die Gewichtsverlagerung.

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Schulterherein – von innen geführt

Das Untertreten bei der Bodenarbeit ist dann die erste Stufe, um dem Pferd das Schulterherein beizubringen. Hat das Pferd Biegung und Stellung im Stehen gelernt, wird es nun vom Reiter auf dem Zirkel geführt. Durch das Zeigen mit der Gerte auf das innere Hinterbein, lernt das Pferd sein inneres Hinterbein vermehrt zum Schwerpunkt zu bringen.

Beim Reiten ist ein langsamer Beginn zu empfehlen, Qualität vor Quantität: das heißt lieber weniger gute Schritte verlangen, da man ansonsten in Gefahr läuft, die Muskulatur zu überdehnen und das Pferd anfangs zu überfordern. Schulterherein im Schritt kann außerdem helfen, das vorwärts-abwärts Suchen bei verspannten oder nicht balancierten Pferden zu verbessern.

Auf dem Zirkel wird anfangs die Vorhand über das Zusammenspiel des äußeren Zügels und des inneren Schenkels hereingenommen. Der innere Sitzknochen belastet vermehrt und, der Reiter muss darauf achten nicht in Bewegungsrichtung nach außen zu rutschen oder die innere Hüfte einzuziehen. Hier gibt es allerdings auch unterschiedliche Auffassungen: Manche Reitlehren empfehlen hier, anfangs vermehrt auf dem äußeren Sitzknochen zu sitzen und erst später den inneren zu belasten. Ich persönlich möchte mich aber nicht in meiner Hilfengebung widersprechen, außerdem soll mein innerer Sitzknochen ja quasi ein Wegweiser für das innere Hinterbein des Pferdes in Richtung Schwerpunkt sein.

Der äußere Schenkel bekommt eine verwahrende Aufgabe und überwacht das äußere Hinterbein, nicht auszufallen und sich so der Biegung zu entziehen.

… und wie man es nicht macht

Manche Reiter unterliegen der Versuchung, mit dem inneren Zügel die Schulter herein zu holen. Dadurch wird aber nur der Kopf in die Bahnmitte gezogen – das eigentliche Ziel: Freiwerden und Leichtwerden der äußeren Schulter wird nicht erreicht, da das Pferd so nur vermehrt auf die äußere Schulter gebracht wird.

Außerdem wird der Vorwärtsimpuls des inneren Hinterbeins behindert, wenn das Gewicht auf die innere Schulter gebracht wird. Ein weiterer Fehler kann passieren, wenn man zu viel mit dem inneren Schenkel treibt, bzw. diesen beim Treiben ständig hoch zieht und nicht mit der inneren Hüfte in der Bewegung nach vorne unten mit dem Pferd mitschwingt. Durch das Treiben mit hochgezogenem inneren Schenkel sitzt man erst recht wieder eher nach außen, das Pferd wird eher seitwärts, ähnlich dem Schenkelweichen getrieben, das äußere Hinterbein wird zum Ausfallen geradezu eingeladen.

Hier hilft die Vorstellung, dass man die äußere Schulter nur anheben möchte, der innere Steigbügel sollte länger scheinen, als der äußere, der äußere Schenkel wird leicht, um der Schulter Platz zu machen, sich leichter zu heben. Und noch ein wichtiger Grundsatz sei gesagt: Reiterschulter parallel zu Pferdeschulter, Reiterhüfte parallel zu Pferdehüfte.

Aber Achtung: auch hier darf man sich nicht täuschen lassen, wenn das Pferd sich mehr im Hals verbiegen sollte und die Schulter nicht hereinnimmt.

Können die Reprisen des Schulterherein verlängert werden, bei gleichbleibendem Takt und Tempo auf dem Zirkel und entlang der Bande, kann das Schulterherein auch auf Linien ohne begrenzende Wand geübt werden.

 

Reiten wir also einfach – mit Hilfe des Schulterherein 😉

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