Ich spüre nichts! Ich sehe nichts! Wenn wir mit dem Pferd gemeinsam lernen, dann gibt es Momente wo wir uns leuchtende Buchstaben oder Pfeile wünschen.
Wir sehen, dass sich das Pferd bewegt, aber wir können die Qualität der Bewegung nicht einschätzen. Wir spüren eine Bewegung, können aber nicht genau zuordnen, wann was passiert? Und spüren wir in der Bodenarbeit überhaupt gleich viel, wie beim Reiten?
Die ewige Blickschulung
Nun mal ehrlich, wie oft haben wir in den sozialen Medien gesehen, dass ein Foto von (häufig auch einer bekannten Persönlichkeit) gepostet wird, zum Zwecke der Blickschulung. Die Betrachter lernen dabei am ehesten, wie es nicht gehen soll.
Das bringt aber in der ersten Einheit am Boden wenig. Wir sollten schließlich wissen, was wir sehen wollen und warum.
Dass man etwas nicht gleich sieht und erkennt, setzt einige Reiter schnell unter Druck. Und das ist unnötig, schließlich dürfen wir uns auch Zeit nehmen, etwas zu lernen. Das Lernen hört nie auf, oder wie heißt es so schön:
„Ein Leben reicht nicht aus, um Reiten zu lernen“
Bent Branderup, Akademische Reitkunst, Cadmos Verlag
Balance
Wenn wir unser Pferd zum Reitpferd schulen möchten, dann ist einer der ersten Meilensteine Balance. Balance können wir sowohl in der Bodenarbeit, als auch unter dem Sattel observieren.
- Wie steht das Pferd?
- Stellen wir uns vor, wir hätten ein gläsernes Pferd, der Glaskörper ist gefüllt zu 3/4 mit Wasser – wo fließt das Wasser im Stand bzw. In der Bewegung hin? Gibt es im Stand oder in der Bewegung eine ähnliche Tendenz? Ein Beispiel: Ein Pferd kann im Stehen die linke Schulter deutlich mehr belasten, von vorne sieht das äußere Buggelenk deutlich tiefer aus, von hinten/oben betrachtet ist die linke Schulter auch deutlich stärker bemuskelt. In der Bewegung könnte es freilich ein ähnliches Bild ergeben, das Pferd belastet deutlich die linke Schulter mehr, fällt auf der linken Hand geführt mehr in den Zirkel und auf der rechten Hand mehr nach außen.
- Wie ist die Nickbewegung des Pferdes im Schritt? Sieht es eher so aus, als würde der „Wackeldackel“, oder einfacher gesagt – die Pferdeohren mehr zum Boden nicken oder mehr in Richtung Rücken respektive Reiter auf dem Pferd schwingen?
- Wo zeigen die Zehenspitzen der Vorderbeine des Pferdes hin? Mehr nach innen oder nach außen, wenn wir es auf dem Zirkel führen?
- Wo fußen die Hinterbeine auf? In Richtung Schwerpunkt, oder treten die Hinterbeine sehr kurz? Fußen die Hinterbeine mehr links vom Schwerpunkt oder mehr rechts davon auf?
- Gibt es eine präferierte Biegungsrichtung im Pferdekörper?
Jede einzelne Beobachtung ist spannend.
Wir müssen hier noch keine Schlüsse daraus ziehen. Als Ausbilder und Reiter unserer Pferde hätten wir gerne ein generelles: „Was bedeutet, wenn…“ Lexikon. Wir vergessen dabei, dass wir eigentlich auch ein ganz gutes Gefühl für Balance haben, schließlich sind wir als Zweibeiner auch öfter hingefallen, wenn wir Laufen gelernt haben. Der erste Schritt zum Sehen und Fühlen ist auf jeden Fall zuzulassen, sich Zeit zu geben und sich auf das Abenteuer einzulassen, ohne dass man gleich jedes Detail erkennen kann und mit einem lateinischen Namen benennt.
Formgebung
Formgebung ist der nächste Schritt auf dem Weg zum Reitpferd. Wenn wir uns wünschen, dass uns unser Pferd gut tragen kann, dann benötigen wir eine entsprechende Formgebung der Oberlinie. Das fängt bei Stellung und Biegung an.
Hier können wir folgendes obersvieren und in der Bodenarbeit fühlen:
- Wie löst sich das Pferd abwärts? Wie reagiert es auf einen Impuls am Kappzaum? Spürt man einen Widerstand oder lässt sich das Pferd ganz leicht fallen? Vielleicht lässt es den Kopf ganz tief fallen, man hat eher das Gefühl, der Kopf und der Brustkorb fallen „runter“. Gibt es eine Position des Kopfes, die das Pferd sehr leicht einnimmt? Stoßen wir, wenn wir tiefer lösen möchten gar auf einen Widerstand?
- Die Pferdenase auf Buggelenkshöhe, das kann schon mal ein guter Anhaltspunkt sein.
- Wir beobachten nun den Winkel an der Ganasche. Nähern sich Unterkiefer und erster Halswirbel an oder haben wir hier eine deutliche Ganaschenfreiheit? Prima, dann können wir auch ein bisschen Stellung versuchen. Dabei sollte der Unterkiefer unter dem ersten Halswirbel platziert werden. Um alles besser zu sehen, lohnt es sich freilich auch schon mal beim Putzen genau darauf zu achten, wie die Halswirbelsäule geformt ist und wie sich die Atlasflügel des Pferdes ertasten lassen.
Wenn wir an Stellung und Biegung arbeiten, dann korrespondiert die Tätigkeit aus dem Unterkiefer (korrekte Platzierung unter dem Atlas, also etwas nach außen) mit der Tätigkeit aus der Hüfte. Hier gibt es meist die ersten Fragezeichen. So passiert es mir im Unterricht, dass ich schon mal begeistert lobe, wenn sich die innere Hüfte des Pferdes ein kleines bisschen nach vorne/unten bewegt, wenn wir im Stand an Stellung und Biegung arbeiten, der Schüler sieht mich ratlos an und sagt: Da ist doch gar nichts passiert.
Ich sehe es nicht!
Man fühlt sich ein bisschen wie bei des Kaisers neue Kleider. Alle können es sehen, nur selbst bleibt man ratlos zurück. Das macht nichts. Ich habe es zu Beginn auch nicht gesehen.
Neulich bin ich auf ein sehr sehr altes Video gestoßen, welches bei einem meiner ersten Kurse in der Akademischen Reitkunst aufgenommen wurde. Damals war ich noch schwer unzufrieden mit meiner Barilla. Ich hatte noch immer das Gefühl, ich könnte keine ordentliche Formgebung vom Sattel aus erreichen und dabei hat sie sich so brav an den äußeren Zügel gedehnt. Würde ich mich heute da selbst unterrichten, wäre ich schon sehr zufrieden und würde mich sehr loben. Damals konnte ich die feinen Nuancen gar nicht entdecken.
Deswegen ist guter Unterricht eigentlich unbezahlbar. Wir lernen die Dinge zu sehen und zu fühlen, wenn uns jemand begleitet, der im richtigen Moment „Gut“ sagt. Wir bestätigen ja auch da Pferd für seine Leistung und seine Versuche. Gerade am Anfang ist es ja so, dass wir sehr aufs „Raten“ angewiesen sind, wenn wir eine Kommunikation erarbeiten. Noch ist die Sprache nicht da. „Meinst du so? Oder so“? Wir versuchen unserem Pferd Inhalte zu erklären und bestätigen das gewünschte Ergebnis. Und so schult uns zu Beginn ein guter Trainer, der mit gutem Timing Momente für uns einfängt.
Was passiert da eigentlich unter mir?
Wer erinnert sich noch an die ersten Einheiten in der Kinderreitschule. Ich weiß noch so viele Details, so begeistert war ich damals. Ich kann mich noch gut an die Bewegungen der Stute Kaldea erinnern. Es war wohl im Winter, ich weiß nicht, wie lange ich schon geritten bin, ich denke ein gutes Jahr, da durfte ich Kaldea frei reiten und ohne Ausbinder. Eine tolle Sache. Ich bekam Hilfestellung und offensichtlich ging es darum, dass ich den Kopf der hübschen Trakehnerstute auf eine gewisse Art und Weise platzieren sollte. Ich weiß noch genau, dass ich ein paar Aha Effekte hatte, wenn ich im scheinbar korrekten Moment zum Treiben kam, dann passierte auch „vorne“ ein gutes Ergebnis. Zumindest wurde es gelobt. Aber ich hatte absolut keine Ahnung, wann ich was tun sollte und warum?
Was mir und sicherlich vielen Reitschülern aus dem damaligen Unterricht geblieben ist, ist ein gewisser Gehorsam, die Anweisungen des Reitlehrers prompt auszuführen. Auch wenn man eigentlich gar nicht wusste, was man denn tun sollte. Ich erlebe es also sehr oft und ertappe mich selbst auch immer wieder dabei, dass ich loslege, ohne mal genau hinzuspüren.
Wenn wir also von „unten“ die Beobachtung gemacht haben, wie es sich mit der Balance unseres Pferdes verhält, dann könne wir ähnliches auch von oben erfühlen. Wie fühlt sich nun die Balance an? Entspricht es dem Bild, das wir von unten entwickelt haben?
Wenn ich neu zu einem Schüler komme, gehen wir immer das Gefühl durch:
- Wie fühlt sich die Pferdebewegung an?
- Geht es mehr auf oder mehr abwärts? Wird der Reiter in der eigenen Hüfte mehr auf oder ab bewegt?
- Geht es vielleicht auch mehr vor oder zurück?
- Fühlt sich die Bewegung auf dem Pferd eckig oder rund an?
- Fühlt man sich gar in einem bestimmten Moment nach vorne gestoßen?
- Sitzt man mehr nach links oder nach rechts?
- Kann man gut atmen? Wenn ja, wohin?
- Wie fühlt sich die eigene Bewegung in den Schultern an?
- Wie fühlen sich die Niederschläge der Vorderbeine für den Reiter an?
Die Liste lässt sich endlos fortsetzen und ich bin immer wieder überrascht, wie viele Details im Laufe der letzten Jahre dazu gekommen sind.
Die meisten Reiter sind erstaunt, wie viel sie schon in den ersten Einheiten wahrnehmen und mit kleinen Hilfen beeinflussen können. Es ist wie bei einem harmonischen Paartanz. Das Gefühl leitet uns an zu einem großartigen Miteinander.
Du kannst das!
Es ist nicht so schlimm, wenn wir nicht sofort alles sehen oder fühlen. Wir müssen auch nicht sofort alles prompt richtig machen und ausführen, wir dürfen lernen. Was man heute noch nicht sieht, das sieht man morgen und genau so verhält es sich auch mit dem Gefühl.
Vermutlich werde ich diesen Blogbeitrag in ein paar Jahren lesen und mir denken: Ach du meine Güte, was habe ich da noch nicht gewusst. Deswegen sind wir Reiter ja auch keine Pauschaltouristen, wir wollen entdecken und erforschen. Das ist im Übrigen auch für mich Akademische Reitkunst. Nicht unbedingt immer ein System, sondern eine spannende Reise, bei der ich mir viele Fragen stelle und stolz bin darauf immer selbstständige Antworten zu finden.
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Liebe Anna, danke für diesen tollen Beitrag! So sollte doch Reitunterricht sein, ganz am Anfang und auf höchstem Niveau.