Er ist also wieder da – und mit ihm der Glaubenskrieg der Reitkulturen. Seit „Totilas“ Comeback vom letzten Wochenende wurde im Internet der nächste Shitstorm losgetreten.

Nur ein Satz zu Totilas Comeback: Mir persönlich hat es nicht gefallen. Und scheinbar ging es nicht nur mir so – alleine auf Facebook sind in zahllosen Gruppen Diskussionen über den Comeback-Ritt entfacht. Leider auch teilweise mit Kommentaren unter der Gürtellinie.

In der Kommunikationswissenschaft geht man davon aus, dass es in der Massenkommunikationsgesellschaft zu einer Realitätsinszenierung kommt. Konkret heißt es genau, dass Medien die Realität nicht abbilden können, sondern uns in der Regel eine höchst selektive, ungenaue, tendenziöse, verzerrte und konstruierte Weltsicht bieten.

Dass wir Reiter innerhalb der diversen Reitweisen und Stile ebenso dazu neigen, unser eigenes Weltbild zu skizzieren ist, so denke, ich bekannt. Das zeigt auch Facebook: Wer hier nach den verschiedenen Vertretern sucht, wird möglicherweise ziemlich überrascht…

Zwei Dinge, die mir zu denken geben…

Es gibt jene, die sich ihre Realität ohne „Wenn und Aber“ zurecht biegen. In der Diskussion in einer Facebook-Gruppe ob die Kandare bei Totilas „durchgefallen“ wäre, gab es einzelne Meinungen zu lesen, die die Ansicht vertraten: eine Kandare mit viel Zungenfreiheit – wie sie hier wohl Verwendung findet (scheinbar kann man sogar schon „inside Totilas“ Experte sein und weiß was im Maul liegt) – würde eben durchfallen, das müsse so sein.

Bei korrekter Verschnallung und Anpassung der Kinnkette ergibt sich allerdings maximal ein 45 Grad Winkel, wenn die Kandare richtig verschnallt ist. Über die Bedeutung einer hohen Zungenfreiheit habe ich bereits hier detailliert geschrieben.

Mein Fazit aus solchen Kommentaren: In der Reiterwelt gibt es noch immer viel zu viele Menschen, die nach dem folgenden Prinzip mit ihren Pferden arbeiten: das war schon immer so, das wird auch immer so bleiben – das muss so sein!

Ja, solche Meldungen, die aus einem Nichthinterfragen resultieren, machen mich tief betroffen. Tief betroffen deswegen, weil wir heute zunehmend in einer Welt leben, in der das Bedürfnis zunimmt, zumindest beim Konsum alles zu hinterfragen.

Wir wollen wissen, woher die Erdbeeren kommen, die wir im Supermarkt kaufen und der Kaffee muss doch bitte Fair Trade sein. Wir wollen beim Einkaufen ein umweltbewusst-freundliches Gewissen haben. Gut, aber beim Pferd bleiben wir auf halbem Wege stecken: Es gibt die Bio Karotte fürs geliebte Gauli, gleichzeitig aber den Schlaufzügel (der bitte biologisch abbaubar sein sollte).

Als ich den Weg in die Akademische Reitkunst eingeschlagen hatte, wurde mir nichts neu aufgequatscht und es ging um keine neue Erfindung der Reitkunst. Es ging um das Wissen der Alten Meister. Und ja, auch hier gab es bestimmt einen Haufen Irrwege – aber  wie schön  ich muss alte Fehler nicht nochmal machen, ich kann aus dem gesammelten Know-How der Reitkunst lernen.

Plötzlich ergaben alle Hilfen einen Sinn

Aber ich musste auch sehr viel und sehr tränenreich an mir arbeiten, denn die größte Arbeit war es, mir selbst einzugestehen, was ich alles falsch gemacht hatte. Ich habe Reiter beobachtet, denen die langwierige Arbeit im Schritt zu langsam erschien. Klar, wenn man es gewohnt ist eine Stunde volle Pulle zu reiten und ein Workout wie im Fitnesstraining hat, ist das Minimale und die Konzentration auf einige wenige Schritte sehr ungewohnt (vor allem lässt sich so nichts erschummeln!).

Außenstehende haben auch schon oft gesagt: „Aber ihr arbeitet ja nur im Schritt“, oder „ihr macht ja gar nix“, oder „die Pferde schwitzen nicht“. Ja das müssen sie nicht. Schweiß bedeutet nicht unbedingt ein gutes Ergebnis. Oft habe ich auch schon den Satz gehört: „Ich reite aber auch schon seit zwanzig Jahren und ich kann jetzt nicht mehr umlernen“. DOCH. Genau das geht.

Aber man muss Geduld haben. Vor allem mit sich selbst und mit den Pferden. Und man muss in der Lage sein, sich auch mal über kleinere Ergebnisse freuen zu können. Eigentlich reiten wir ja nur, weil wir ein schönes Hobby haben möchten, es ist also nie zu spät wirklich Reiten zu lernen. Ich hatte meine ersten Longestunden mit sechs Jahren. Mein hartes Urteil heute über mich selbst: danach bin ich zwanzig Jahre lang irgendwie oben gesessen. Und seit Oktober 2007 lerne ich die Reitkunst. Es ist nie zu spät. Wenn mich jemand fragt, wann ich Reiten gelernt habe, dann kann ich sagen: Spät, denn wirklich reiten gelernt habe ich mit 26. Es ist nie zu spät, „Einfach zu Reiten“!

Ich hätte jetzt wieder einen Artikel schreiben können über die negativen Folgen der Rollkur. Ich denke, diese Artikel kennen wir alle. Ich könnte auch über jene schreiben, die der Rollkur selbst niemals ein gutes Zeugnis ausstellen würden, im Training auf dem Weg zum Sieg aber dann doch auch „rollen“.

Was ich noch in diesen Artikel packen möchte ist mein Bauchgefühl. Ja, ich habe das Gefühl wir sind gerade auf einer Trendumkehr. Immer mehr Menschen möchten abseits von Schlaufzügel oder anderen Hilfszügeln ihr Pferd achtsam und mit Köpfchen arbeiten. Wissen, warum man was tut. Immer mehr Menschen interessieren sich auch für Kurse und Weiterbildungen abseits vom Reiten – ob es jetzt die korrekte Hufbearbeitung anbelangt oder die Fütterungsoptimierung.

Ja und es gibt auch Kurse, die Kindern den zwanglosen Umgang abseits des Sports mit Pferden näher bringen sollen – das so genannte FEBS Konzept. Hier geht es um die Beziehung zum Pferd, um das erste Fühlen und Spüren auf dem Pferd – weg vom „Hau drauf und gib ihm“: ein guter Anfang, möchte ich meinen!

Der Boulevard des Sports?

Man verzeihe mir den Vergleich: Es gibt drei Komponenten, die für die so genannte Boulevardzeitung als so genanntes „Qualitätsmerkmal“ herhalten: Blut, Busen und Babies. Ich denke von Blut und Drama haben wir langsam genug – das zeigt eben die ständige Nachfrage nach neuen Ausbildungswegen. Und der Hype um die Millionenpferde, deren Auftritte vielerorts auch nicht mehr für Bewunderung sorgen: Ein Phänomen wie beim Autounfall – man muss hinsehen?

Im Fall eines dänischen Sport-Reiters rund um eine blaue Zunge wollten die Sponsoren jüngst wohl nicht mehr hinsehen.

Vielleicht ist wie gesagt JETZT der Zeitpunkt der Trendumkehr.

Wer wirklich selbst den Willen hat, an sich und seinem eigenen Ausbildungskonzept etwas zu ändern – dem kann ich sagen:

NUR MUT! Es wird sicherlich nicht einfach, aus alten festgefahrenen Mustern auszubrechen, aber es zahlt sich definitiv aus.

 

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