Schulterherein wird gerne – zitiert nach Nuno Oliveira – als Aspirin der Reitkunst bezeichnet. Der Beipackzettel des Schulterherein verspricht viel, von den Nebenwirkungen und Hirnverknotungen für den Reiter mal abgesehen. Für manche Inhalte und Übungen bräuchten Reiter aber häufig selbst ein Aspirin – wenn es denn mal klemmt.
Im Inteview mit Bent Branderup für die Ausgabe Nr. 23 der Feinen Hilfen habe ich einige Stolpersteine zusammengefasst und mit einem neuen Beipackzettel aus Sicht der Akademischen Reitkunst versehen.
Was würde denn ein Beipackzettel für ein korrektes Vorwärts aus Sicht der Akademischen Reitkunst enthalten?
Bent Branderup: Wenn wir uns auf Gustav Steinbrecht berufen, dann wird das Vorwärts in erster Linie definiert vom Unterschied zwischen einem nach rückwärts rausschiebenden Hinterbein und einem vorgreifenden Hinterbein. Mit seinem Leitsatz „Reite dein Pferd vorwärts und richte es gerade“ nimmt Steinbrecht also deutlichen Bezug auf den vorwärts greifenden Hinterfuß, der stets dominieren muss. In der Hinterhand des Pferdes stehen die Gelenke in einem bestimmten Winkel zueinander. Diese sorgen für eine Kraftübertragung aus der Hinterhand in das Becken und weiter in die Wirbelsäule des Pferdes. Überwiegt der Vorgriff der Hinterhand, kommt die Wirbelsäule in eine dreidimensionale Schwingung. Der Reiter kann dies vor sich, aus dem Sattel am Genick des Pferdes beobachten. Dieser Schwung ist bereits im Schritt am Größten, das Auge kann hier bereits geschult werden, indem es überprüft, ob die Schädelbasis in der Bewegung nach vorne-unten oder nach hinten-oben federt. Im ersten Fall überwiegt der Vorgriff, im zweiten Fall der Rückschub. Die Bewegung der Schädelbasis nach hinten-oben ist ein wichtiges Indiz für den inkorrekten Rückenschwung, wobei wir als als Reiter das gewünschte „an die Hand herantreten“ dann auch sogleich deutlich vermissen. Dieses an die Hand herantreten und somit ein angenehmes Gefühl in der Reiterhand, welches sich in Lockerheit und Losgelassenheit äußert, kann nur über den korrekt gearbeiteten Rückenschwung entstehen.
Nach welcher Ursache müssen wir suchen, wenn wir das Vorwärts im Pferd vermissen?
Bent Branderup: Rein physiologisch ist das Hüftgelenk am meisten am Vorgriff des Hinterfußes beteiligt. Wenn sich das Hüftgelenk aber eher öffnen möchte, also in eine Extension kommt, wie es bei einem Kutschpferd durch kräftigen Rückschub der Hinterhand der Fall wäre, dann haben wir bei unserem Reitpferd diesbezüglich ein Problem – denn hier suchen wir nach einem Schließen der Gelenke, besonders in der Versammlung. Der Grund für eine vermeintliche „Faulheit“ beim Pferd ist also auch oft im Hüftgelenk zu suchen, wenn sich das Gelenk nach hinten raus öffnet, fällt das Pferd auf die Schulter. Das Phänomen des blockierten Rückenschwungs äußert sich dann – je nach der Besonderheit des einzelnen Individuums in einem hibbeligen oder einem trägen Pferd.
Steinbrechts meist zitiertem Leitsatz lässt er auch gleich eine Warnung folgen: Ich meine mit vorwärts nicht zu schnell. Wie erkennt der Reiter denn, wann das Tempo zu schnell oder zu langsam wird?
Bent Branderup: Man erkennt ein „zu schnell“ ebenso in der Tätigkeit des Hüftgelenks – wenn sich in der Bewegungsphase des Abschubs eine deutliche wahrnehmbare Linie zwischen Hüftgelenk und Kniescheibe abzeichnet, dann war der Rückschub zu dominant, das Hüftgelenk wurde zu sehr geöffnet. Vom Sattel aus muss sich der Reiter aber auf sein Gefühl und seine Wahrnehmung verlassen: Hier zeigt uns erneut die Bewegung aus der Schädelbasis den korrekten Rückenschwung. Daher gibt es in den Turnieraufgaben auch das Überstreichen, wobei der Reiter kontrollieren kann, ob das Pferd bei deutlich nachgebender Hand unter dem Reiter bleibt oder davon eilt. Hält die Hand das Pferd fest, dann kann auch der Rückenschwung festgehalten sein. Wer also nicht loslassen kann, weil das Pferd sonst davon stürmt, wird leider feststellen, dass das Pferd nicht im Gleichgewicht vorwärts unterwegs ist.
Ist ein Pferd für uns unbequem, dann muss es das auch für sich selbst sein – wenn der Reiter also nicht zum Sitzen kommt, dann spüren und hören wir den harten Niederschlag der Vorderbeine, meist verursacht durch zu hohes Tempo.
Für den Anfänger bedeutet das, wenigstens ein so ruhiges Tempo zu wählen, dass er durch die Beschleunigungskräfte die Gelenke des Pferdes nicht in Mitleidenschaft zieht. Daher rate ich gerne aus gesundheitlichen Gründen sehr vorsichtig unterwegs zu sein. Vorsichtig kann aber auch „zu langsam“ bedeuten. Hier müssen wir lernen „Langsam“ von Versammlung zu unterscheiden. Sind wir also unsicher, ob unser Tempo zu langsam gewählt wurde, dann können wir den Blick am stehenden Vorderbein schulen. Ist das stehende Vorderbein in der Stützbeinphase rückständig, also weit unter die Körpermasse geschoben besteht keine Schulterfreiheit. Man darf sich also nicht blenden lassen vom gehobenen Vorderbein, welches eben nicht der Indikator für gute Schulterfreiheit ist.
Ein niederes Tempo macht also die Kräfte, die auf die Gelenke wirken „milder“, sowohl bei „zu schnell“, als auch „zu langsam“ blockiert jedoch eine vermehrte Belastung der rückständigen Vorhand die Schulterfreiheit. Treibende Hilfen sind nur dann effektiv, wenn das hinten raus schiebende Hinterbein tatsächlich im Vorgriff verbessert werden kann. Ständig treibende Hilfen bedeuten jedoch, dass der Hinterfuß eigentlich permanent nach hinten herausraus geschoben hat. Bei korrektem Vorgriff aus der Hüfte heraus muss der Reiter nicht mehr dauerhaft nach dem Vorwärts fragen.
Wenn das Vorwärts fehlt, wie kann man es erneut erarbeiten?
Bent Branderup: Erst muss man sich klar machen, ob der Fehler vom Reiter im Sattel ausgeht: Drückt eine rückwärts einwirkende Hand die Hinterhand nach hinten raus? Ist es der Sitz, der dem korrekten Rückenschwung im Weg ist? Wurde die Halsformgebung übertrieben? Oder finden wir gar einen Mangel in der Bewegungsqualität des Pferdes? In 80 Prozent der Fälle können wir von Reiterfehlern ausgehen. Die restlichen 20 Prozent können wir meist einer mangelnden Fähigkeit des vorher erwähnten Hüftgelenks zurechnen. Da das Hüftgelenk ein Kugelgelenk ist, können wir hier zum Glück mit durchdachter Arbeit einiges mobiler machen. Auch muskuläre Dysbalancen können wir durch schonende Gymnastizierung verbessern, bei Problemen mit Sehnen und Bändern stellt sich die Arbeit langwieriger dar.
In der Praxis bilden wir unsere Schüler zunächst in der Bodenarbeit aus – wir schulen also zunächst das Auge des Reiters und schließen damit aus, dass der mögliche Rückschub der Hinterhand von Hand und Sitz verschuldet wird. Durch die Entwicklung einer gemeinsamen Kommunikation mit dem Pferd lernen wir den Vorgriff eines inneren Hinterbeins – das wäre dann im Schulterherein, sowie den Vorgriff des äußeren Hinterbeins im Kruppeherein anzusprechen. Können wir beide Hinterbeine nach vorne arbeiten, dann haben wir in der Versammlung Hinterbeine, die mehr in Richtung Schwerpunkt arbeiten. In besonders schwierigen Fällen müssen wir also erst über die Versammlung die Gelenke geschmeidig machen, dann kann unser Pferd auch mehr vorwärts zulassen.
Wir haben nun über den ersten Teil des Steinbrecht Zitats gesprochen. Nun zur Geraderichtung: Was tun, wenn es hier klemmt?
Bent Branderup: Wir brauchen zunächst auch hier eine Definition von „Gerade“. Hier konzentriert sich Steinbrecht auf das Auffußen der Hinterbeine. Dieser Definition nach werden nur bei korrektem Auffußen die Kräfte über die Fessel-, Sprung,- Knie- und Hüftgelenke an das Becken weiter gegeben. Nur bei korrekter Formgebung der Wirbelsäule kann der Schwung dann von der Hinterhand an die Vorhand übertragen werden – wir sehen dann ein Rausschwingen der Vorderbeine aus dem Brustkorb, so dass diese parallel zur Halsformung schwingen. Das Vorderbein setzt dann dort auf, wo die Nase des Pferdes hinzeigt (außer beim Schulterherein, da schwingen die Vorderbeine etwas außerhalb an der Nase vorbei). Steinbrechts Definition von „Gerade“ liefert gleichzeitig eine Erklärung der Übertragung der Kräfte der Hinterhand an die Vorhand. Daher darf man „gerade richten“ nicht mit „geradeaus reiten“ verwechseln.
Wenn es also klemmt, muss man erst erkennen, warum der Hinterfuß seinen gewünschten Auffußpunkt nicht erreicht. Hier haben wir unzählige Möglichkeiten – der Hinterfuß kann zu breit fußen, zu schmal oder zu kurz. Mit dieser Analyse alleine ist es allerdings noch nicht getan – wir müssen weiterführend erkennen, wo die Ursache liegt. Ist es das Hüftgelenk, das nicht korrekt nach vorne-unten seine Bewegung ausführt, oder werden Knie und Sprunggelenk, die ja zusammenhängen nicht korrekt gehoben? Wir müssen also das Symptom erkennen und die Ursache bestimmen.
Das klingt nach keiner einfachen Aufgabe für den Reiter?
Bent Branderup: Wenn Kunst leicht wäre, dann wäre sie nicht begehrenswert. Das trifft auf alle Kunstformen zu. Es gibt ja auch kein „bisschen schwanger“. Man ist schwanger- oder man ist es nicht. Soll heißen: Reiten ist keine Sache die im Hauruck-Modus funktioniert. Ich sage aber immer: Die Zeit vergeht. Wir können sie aber sinnvoll vergehen lassen. Weg ist sie ohnehin – also lohnt es sich doch eher Zeit schön zu verbringen und in spannende Lernbereiche zu investieren, auch wenn diese zunächst sehr kompliziert anmuten.
Wie bekommen wir also mit der Zeit eine korrekte Geraderichtung?
Bent Branderup: Ludwig der XIII. fragt seinen Lehrmeister Pluvinel: Warum reiten wir all diese Seitengänge. Er sagt darauf: Damit wir gerade richten können. Wenn die Hinterhand rausfällt und man kann kein Kruppeherein, dann kann man nicht geraderichten. Wenn die Schulter rausfällt und wir können nicht durch Schulterherein korrigieren, dann können wir ebenso wenig geraderichten. Allerdings: Die Dosis macht das Gift. Nur ein korrektes Schulterherein, wobei der Brustkorb nicht über das stehende Vorderbein geschoben wird macht die gesundheitsfördernde Essenz.
Die Empfehlung ist daher zuerst das Auge zu schulen – dementsprechend muss der Reitschüler zunächst den Unterschied mit dem Auge erfassen können, um korrekt gerade zu richten.
In der Akademischen Reitkunst wird dann im Stand auch die Schulung der Parade weitergeführt – wo klemmt es denn hier im Regelfall?
Bent Branderup: Zum Zeitpunkt, zudem ich eine Parade gebe, fordere ich das Pferd auf, das Gewicht nach hinten zu verlagern. In diesem Moment geht es auch darum die Reiterhand zu schulen, damit diese spürt, ob und wo Widerstände entstehen. Eine Parade ist das Gefühl der Abwesenheit jeglichen Widerstandes. Wenn man allerdings mit den Händen nach hinten drückt, dann zwingt man die Gelenke des Pferdes förmlich zum Gegendruck. Diese öffnen sich dabei anstatt sich zu schließen. Nur bei richtiger Formgebung wird das Pferd nicht auf die Schulter drücken oder im Lendenbereich einen Katzenbuckel zeigen.
Eigentlich gibt es seit 2.400 Jahren einen Satz von Xenophon, der die Reitkunst zusammenfasst: „Wir müssen die Hinterbeine des Pferdes nach vorne reiten und dem Pferd eine Parade geben, so dass es sich in den Gelenken der Hinterhand beugt.“ Alle „Verklemmungen“ die wir nun beschrieben haben, sind quasi in diesem Satz enthalten, den wir heute dem modernen Reiter neu erklären möchten.
Vielen Dank für das Gespräch
Ein sehr informatives Interview! Vielen Dank dafür ?