Was hilft uns in der Reiterei (und im übrigen Leben) eine Orientierung zu finden? Richtig, Definitionen oder Labels.
Definitionen oder Labels bieten uns die Möglichkeit, in diesem Fall eine Reitweise mit einem Wort oder Begriff zu umschreiben und das kann ganz hilfreich sein, wenn es darum geht Gleichgesinnte, Trainer, Inspirationen usw. zu finden und man sich auch in einer Diskussion orientieren möchte.
Wir sind grundsätzlich nicht gerne alleine – wir suchen eine bestimmte Gemeinschaft, daher brauchen wir auch Definitionen.
Interessant ist natürlich auch der Nebeneffekt – so stehen „Labels“ in Sachen Reiten ja auch für eine bestimmte Haltung dem Pferd gegenüber und geben der ganzen Sache ja auch eine bestimmte Identität. Sprache hilft uns dabei und bringt ganz tolle Eigenschaften mit – weil wir komplexe Inhalte mit einem einzigen Wort umschreiben können. Wenn wir also von Reitkunst sprechen, dann wissen wir gleich, es geht hier beispielsweise nicht um Sport. Im Wort Kunst schwingt immer eine gewisse Kreativität, Buntheit, Melodie, Freiheit etc. mit. Reitkunst wird aber auch jeder von uns auf seine Weise interpretieren, ähnlich, wie wir alle zur Liebe eine individuelle Konnotation finden, abhängig davon, was wir in unserem Leben bereits in Punkto „Liebe“ erlebt haben.
Unterer dem Begriff Reitkunst tummeln sich heute auch viele Interpreten und es wird auch oft die Frage laut – was ist denn der Unterschied zwischen Klassischer und Akademischer Reitkunst?
Klassische Reitkunst
Pferd und Mensch sind seit Jahrhunderten miteinander verbunden. 400 vor Christus ist Xenophon in Griechenland einer der ersten, der die Kunst, damals aber noch primär für die Kriegsreiterei erforscht hat. Es folgen in einer weiteren, bei weitem nicht vollständigen Auflistung Grisone, bekannt als „Vater der Reitkunst“, der die Hofreitschule in Neapel maßgeblich prägte. Während also Malerei und Bildhauerei ihre großen Meister hervorbrachten, kamen neben Grisone Pignatelli in Italien und Pluvinel, der spätere Stallmeister des französischen Königs Ludwig XIII als großer Pädagoge hervor. Françoise Robichon de la Guérinière beschreibt 1733 in seinem Werk eine systematische Ausbildung der Pferde, die noch heute als Grundlage für die klassische Reitkunst, beispielsweise in der Spanischen Hofreitschule in Wien gilt. Von Max Ritter von Weyrother bis zu Alois Podhajsky hatte das Werk des französischen Reitmeisters in der Spanischen Hofreitschule Bestand.
„Das Ziel der Reitkunst ist es, das Pferd so auszubilden, dass es nicht nur in den Bewegungen und Übungen der Hohen Schule brilliert, sondern außerdem auch noch ruhig, elastisch und gehorsam ist und durch seine weichen Bewegungen das Reiten zur wahren Freude werden lässt“.
Alois Podhajsky
Neben den bereits genannten Meistern der Reitkunst lässt sich zusammenfassen, dass es in verschiedenen Ländern Europas eine Kultur des Reitens gab. Um Xenophon lässt sich die Wiege der Reitkunst beschreiben, weiter geht es mit der akademischen Reiterei in den romanischen Schulen von Neapel, Portugal und Spanien, wobei der Begriff „Akademische Reitkunst“ auf die damals gegründeten Reitakademien zurückzuführen ist, in denen nicht nur Reiten, sondern auch andere Kunstformen, Fechten, Latein, höfische Umgangsformen und vieles mehr auf dem Stundenplan standen. Österreich und Deutschland haben hier ebenso Geschichte geschrieben und auch in der Reiterei gab es damals wie heute viele hitzige Debatten rund um die Korrektheit der Interpretation.
Ich persönlich liebe das Werk von Gustav Steinbrecht (1885) „Das Gymnasium des Pferdes“, könnte aber auf die vielen Seitenhiebe auf Françoise Baucher verzichten. Baucher habe ich auch gelesen, allerdings ist der spannende Nebeneffekt beim Studieren der Reitkunst ebenso, dass wir hier Werke lesen, die manchmal entweder ein Schüler vom Meister interpretiert oder zusammengefasst hat. Im Fall von Baucher verwarf dieser auch mehrmals seine Methodik und dies zeigt einmal mehr, dass es tatsächlich in der Reitkunst so viel zu entdecken gibt, so dass sich der Spruch „Ein Menschenleben reicht nicht aus, um Reiten zu lernen“ bewahrheitet.
Kunst versus Sport?
Reitkunst orientiert sich an der Natur des Pferdes, die Kunst muss ihren Bezug zur Wirklichkeit finden. Deswegen setzen sich heute auch so viele Menschen ein, denen die Entwicklung des Sports dahingehend ein Dorn im Auge ist, da sich die im Sport gezeigten Bewegungen der Pferde weit von der Natur entfernen, künstlich sind und mehr zwanghaft, als getanzt scheinen.
Der Sport unterwirft sich dem Diktat der Bewertung – eine skurrile Sache, da die Richter häufig der Exaktheit der einzelnen Lektionen und Figuren sowie mechanischen Tritten mehr Beachtung schenken, als Bewegungsfluss und Reitstil. Die eigene Kreativität und das künstlerische Element gehen dadurch verloren.
Der unvergessene Oberst Handler aus der Spanischen Hofreitschule verfasste ein seinem Werk „Die Spanische Hofreitschule in Wien“ den folgenden wichtigen Merksatz:
„Ein Pferd, das durch die Ausbildung nicht schöner in seinen Körperformen, stolzer in seiner Haltung, aufmerksamer in seinem Gehabe wird, ein Pferd, dem man nicht die Freude über sein eigenes Können am Spiel der Ohren und im Ausdruck der Augen ansieht, wurde dressiert und nicht im klassischen Sinn ausgebildet“.
Ist klassische Reitkunst da drin, wo klassische Reitkunst drauf steht?
So wie wir bei unseren Lebensmitteln gerne auf Markierungen und Kennzeichnungen achten, die die Produkte hinsichtlich „Bio“ oder „Fair Trade“ ausweisen, so hätten wir natürlich als Reisende und Lernende gerne eine Kennzeichnung für „Fair gegenüber dem Pferd“, „der Natur des Pferdes entsprechend“ usw. usf.
Die FN kam hier auf den Plan, mit dem Ziel gesicherte und wohlerprobte Standards der Klassischen Reitkunst zu sichern und zu wahren. Wer sich heute in der großen Turnierszene umschaut und die Schlagzeilen alleine der letzten 10 Jahre verfolgt, darf für sich selbst entscheiden, ob das Experiment geglückt ist.
Aber wohin wenden?
Viele Reiter und Pferdefreunde suchen heute ganz bewusst nach Alternativen abseits vom Sport – und der Großteil der Reiter heutzutage gehört eben zu den Freizeitreitern, der sich abseits der Leistungsgesellschaft nicht auf Turnieren in seinem Können messen möchte.
Es ist natürlich ein riesiger Vorteil, wenn wir die uns von der Geschichte hinterlassene Literatur über die Schulreiterei studieren, um herauszufinden, wo es in der Reitkunst Gemeinsamkeiten, Fortschritte und Rückschritte gab. Wir wünschen uns ja auch eine gewisse Ordnung und Sicherheit bei der Auswahl von Trainern und Schulen. Daher würden wir uns gerne darauf verlassen, dass „Klassisch“ drin ist, wo klassisch drauf steht.
Die Sache wird nicht einfacher, wenn wir uns die durchaus teilweise „marktschreierischen“ Bewerbungen diverser Trainer und Gurus ansehen und jeder möchte irgendwie „Recht“ haben, wenn es um die Korrektheit der Ausbildung von Pferden geht.
Beim Suchen und Finden können wir uns also nur – gleich wie in der Kunst – auf unser Empfinden verlassen. Gefällt uns das, was wir sehen? Empfinden wir es als harmonisch, natürlich, ungekünstelt? Wirkt das Pferd glücklich und stolz? Kein leichtes Unterfangen
Akademische Reitkunst
Der Begriff Akademische Reitkunst zielt wie schon weiter oben beschrieben auf die Reitakademien der vorherigen Jahrhunderte ab. Die Alten Meister schrieben daher immer über die Akademische Reitkunst, wir finden den Begriff im Prinzip seit dem Zeitpunkt, seit dem es Reitakademien gab.
Der Däne Bent Branderup hat diesen Begriff quasi neu geprägt, indem er nach dem Studium der Alten Meister und einer langen Reise zu diversen Größen ihrer Zeit seine eigene Interpretation – aber noch viel wichtiger – auch die Erfahrungen vieler seiner Schüler in die Entwicklung seiner „Akademischen Reitkunst nach Bent Branderup“ mit einfließen liess. So hat sich gerade in den letzten 14 Jahren die Bodenarbeit, das Longieren, das fortgeschrittene Longieren der Seitengänge, Handarbeit von innen und von außen neben dem Pferd geführt, gebisslose Reitkunst und vieles mehr enorm weiter entwickelt.
Ich persönlich bin 2007 erstmals auf die Akademische Reitkunst nach Bent Branderup gestoßen. Das war der Anstoß, die Lehren der Alten Meister ganz intensiv unter die Lupe zu nehmen und diese zu studieren. Gleichzeitig fand ich eine Gruppe Gleichgesinnter, mit einem gemeinsamen Nenner: Keine Gewalt und Zwang am Pferd, das Pferd soll jederzeit Nein sagen können, der Einsatz von Hilfszügeln beispielsweise wird abgelehnt.
„Reiten bereitet Freude und kann zur Kunst werden. Wer möchte nicht gerne ein Künstler sein? Es dürfen jedoch nur diejenigen mit Recht als Künstler bezeichnet werden, die sich von ganzem Herzen darum bemühen, das Gemüt des Pferdes zu verstehen und mit Gefühl statt mit rohem Zwang nach völliger Harmonie streben“.
Wilhelm Müseler
Die Akademische Reitkunst hat – und das ist meine ganz persönliche Meinung viel dazu beigetragen, Zusammenhänge im Pferd in Worte zu fassen. Die Besonderheit war hier, dass beispielsweise beim Erforschen der Schulparade viele Ausbilder zu Wort kamen, das heißt unglaublich viele Sackgassen konnten so in „Wegweiser“, Gefühle und Worte gepackt werden. Das ist schon ein Vorteil, auch, weil es durchaus immer kritische Meinungen gibt.
Dementsprechend rate ich immer beim Auswahl der Reitweise oder des Trainers genau hinzuhören, ob differenzierte Fragen und Meinungen ebenso willkommen sind wie kritische Fragen. Ich persönlich empfinde es als den größten Meilenstein, mein Mindset dahingehend geändert zu haben, nicht irgendwo, mit dem Erreichen gewisser Lektionen anzukommen, sondern mich auf eine Reise des unaufhörlichen Lernens und Entdeckens einzulassen.
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Weitere InformationenUnd jetzt kommt die schlechte Nachricht – in keiner Reitweise können wir uns auf Labels verlassen, es gibt nie eine Garantie. Es kann immer und überall für das einzelne Pferd über ein Ziel hinausgeschossen werden, wir müssen immer hinterfragen, kritisch sein und vor allem auf unsere Pferde hören.
Ja, wie gerne würden wir uns mit einem Label auf alles verlassen, wirklichen Verlass haben wir aber in unseren treuen Weggefährten – den Pferden – sie werden uns zeigen, was richtig und was falsch ist – und dafür müssen wir nur eines tun, die Pferde beobachten:
„Wenn du wissen willst, wie ein Pferd geritten werden sollte, dann schau dir an, wie es sich selbst frei bewegt, wie es schreitet, trabt und galoppiert. Schau genau hin und erkenne die Schönheit, den Rhythmus und die Harmonie seiner Bewegungen. Dann setz dich hin, schließe die Augen und versuche, dieses Bild von müheloser Eleganz, Schönheit und Harmonie fest in deinem Gedächtnis und deinem Herzen einzuprägen. Vergiss es niemals. Denn so sollst du dein Pferd reiten. Erzhalte seine natürlichen Bewegungen. Erhalte seine Persönlichkeit. Erhalte seinen Vorwärtsdrang. So wirst du Erfolge haben, denn du respektierst die Natur.“
Franz Mairinger, ehemaliger Bereiter der Spanischen Hofreitschule
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