Die Reiterhand kann nicht biegen – oder doch? Wer ist für die Biegungen verantwortlich? Welche Biegungen gibt es eigentlich? „Die Logik hinter den Biegungen“: so heißt die Übersetzung des Gymnasiums des Pferdes von Gustav Steinbrecht durch Bent Branderup und Annika Keller. Steinbrecht wurde 1880 in der Nähe von Magdeburg geboren. Bis zu seinem Tod blieb er im Sattel tätig – und galt doch zu seiner Zeit als Verfechter der Hohen Schule und Reitkunst als „altmodisch“. 

Gustav Steinbrechts Ideen und Ausbildungsgrundsätze sind heute aber moderner den je. 

Für die Feinen Hilfen, Ausgabe Nummer 20 habe ich Bent und Annika interviewt: 
Die Fotos von Bent Branderup für diesen Artikel sind von Gorm Branderup, Annika Keller wurde von Céline Rieck fotografiert.

Ist es für den Reiter von Heute schwer Steinbrecht zu verstehen – oder was ist das Ziel eurer Überarbeitung? 

Bent Branderup (BB): Ich würde sogar sagen es ist leichter, da die heutigen Pferdeleute über viel mehr Bildung und Wissensdurst verfügen. Zwar hatten die Leute zu Steinbrechts Zeit mehr Pferdeerfahrung, aber es gab schon damals das Phänomen der „Stillen Post“. Dabei werden Nachrichten von Mensch zu Mensch weitergegeben, allerdings geht gerne was vom Inhalt verloren. Wenn wir heute „Stille Post“ mit dem Namen Anna spielen, dann kommt vermutlich am Ende auch wieder „Anna“ raus, weil der Name sehr einfach zu verstehen ist. Wollen wir aber einen russischen Namen und dazu noch vielleicht die russischen Buchstaben aufschreiben und weitergeben, dann wird das Endergebnis wohl anders aussehen. Der frühere Reiter hatte also vielleicht mehr praktische Erfahrung, das heißt aber noch nicht dass er den Inhalt auch wirklich verstanden hat, denn da wurde damals auch viel exerziert. 

Annika (AK): Wir möchten für die Reiter unserer Zeit noch einmal unter die Pferdehaut schauen und erfassen, was biomechanisch in welchem Moment des Biegens passiert. Was ist überhaupt an Bewegung möglich, diese Frage muss unbedingt gekoppelt sein mit der Analyse, auch wenn es möglich ist – ist es überhaupt gesund? Beispielsweise kann ein Überbiegen im Pferd ja möglich sein, das Pferd lässt dann aber wenn es nach links überbiegt den Brustkorb nach rechts sinken. Es ist möglich, aber für das Reiten nicht gesund. Es geht um das Bewusstwerden biomechanischer Prozesse. 

Bent Branderup beim Prüfen der Stellung im Stand mit PRE „Swan“, Academic Art of Riding Foto: Gorm Branderup

Und warum sind Biegungen eigentlich überhaupt gesund? 

BB: Alle Muskeln sind in Biegen oder Beugen und Strecken involviert. Ein Körper, der weder das eine, noch das andere kann wird steif, es geht also um die Gymnastizierung des Pferdes – und ein geschmeidiges Pferd hat auch ohne Reiter eine längere Bewegungs- und damit Lebensqualität. 

AK: Wenn Biegungen dem Pferd korrekt beigebracht werden, dann führen sie dazu, dass sich die Schiefe im Pferdekörper reduziert und die Balance gleichmäßig verbessert. Das betrifft wie Bent schon sagte, auch das (schmunzelt) „Privatleben“ des Pferdes. Dennoch müssen wir uns beim Biegen immer vor Augen halten, dass wir sämtliche Übungen fast ausschließlich für unsere Gunst brauchen, wenn wir eben auch auf dem Pferd sitzen möchten. 

„Reite dein Pferd vorwärts und richte es gerade“ – aber ich meine nicht das Schnelle“. Hier spricht Steinbrecht explizit eine Warnung aus, um Missinterpretationen entgegenzuwirken. Hätte es mehr solcher Warnungen im Original gebraucht? 

BB: Bleiben wir gleich bei den Biegungen: Auch da gibt es ein zuviel, ein verbiegen. Das ist aber auch ganz verschieden von Pferd zu Pferd. Ist es flachrippig oder eher rundrippig? Das rundrippige Pferd scheint viel mehr gebogen als das Flachrippige. Der Hang in der Hüfte wird bei einem rundrippigen Pferd allerdings stärker ausfallen. Ein weiteres Thema: Schwung. Je nach Pferdetyp, aber auch nach Ausbildungsgrad wird er verschieden ausfallen. Ohne Rumpfmuskulatur kein Schwung – auch nicht mit Reitergewicht. Und so gab es auch beim Schwung eine stille Post, die zu Spannung führte. Wobei sich beide Begriffe in der Reiterei gegenseitig ausschließen müssten! Wenn man an Musik denkt, wird Schwung auch ganz anders interpretiert als in der Reiterei, genauso ist das mit Tempo und Takt – als Reiter können wir einen Dreivierteltakt in verschiedenen Tempos haben, als Musiker nicht. 

Bent Branderup auf Swan, Foto: Gorm-Branderup.dk

AK: Viele Reiter stoßen sich an Steinbrechts Schilderungen zum Schenkelgehorsam, Stichwort Sporn. Wenn man genau liest, wie sehr Steinbrecht zur Vorsicht im Umgang mit dem jungen Pferd mahnt, wird klar, dass Worte aus der Vergangenheit einen gänzlich anderen Effekt auf die Leser von heute haben. Umso vorsichtiger muss man auch Anweisungen und Handlungsempfehlungen zur Biomechanik lesen. 

Was war euer größtes AHA-Erlebnis durch Steinbrecht?

BB: Manchmal war es so, dass ich durch Steinbrecht einen Satz bei Guérinière besser verstanden habe und umgekehrt. Als ich bei Egon von Neindorff gelernt habe, war natürlich Steinbrecht mein „Mitreiter“ auf meinem Knabstrupper Hengst Hugin. Von Neindorff war ein direkter Erbe von Steinbrecht, der ihn für mich in meiner Lehrzeit sehr lebendig gemacht hat. 

Meine Arbeit mit Stellung und Biegung entspringt also der Lehre Steinbrechts und hätte dieser Baucher nie erwähnt, hätte ich mich auch nicht mit diesem Thema beschäftigt. 

AK: Der Teil wo Steinbrecht über die Schulparade schreibt, dass das Pferd erst dann auf den Hanken ist, wenn es das mehrere Sekunden lang aushält – da habe ich mein Gefühl aus der Praxis wieder gefunden. AHA-Erlebnisse kommen manchmal sogar nach der Praxis, wenn man die Theorie noch einmal fein säuberlich studiert. 

Stichwort Baucher, Stichwort Über – oder Verbiegen. Das wird der akademischen Reitkunst manchmal vorgeworfen – berechtigterweise? 

BB: Ich habe viele Jahre den Unterschied zwischen Verbiegen und Biegen studiert. Die Brustkorbrotationsrichtung dreht beim verbogenen Pferd nach außen, dabei kommt die äußere Schulter tiefer. Ein Pferd mit starker, aber korrekter Biegung hebt den Brustkorb außen hoch und wird in der Schulter leichter. Die Menge an Biegung muss aus der inneren Hüfte, die nach vorne-unten schwingt kommen. Auf die individuellen Fähigkeiten des Pferdes einzugeben, bedeutet im Einzelfall den Hals anfangs außen vermehrt zu dehnen, um gewisse Fähigkeiten überhaupt zu entwickeln. Letztlich kann nur ein nach vorne arbeitendes Hinterbein die Hüfte des Pferdes, die Biegung und die Rotation des Brustkorbs positiv beeinflussen. Als Schüler von Egon von Neindorff und Nuno Oliveira habe ich somit Steinbrechts und Bauchers Erbe aufgearbeitet. Speziell bei Oliveira gab es Pferde mit einem entsprechenden Krankheitsbild  – Pferde mit steifer und kurzer Halsmuskulatur, die durch diese Dehnungsarbeit profitiert haben. 

Gefährlich wird es aber, wenn man Methoden unbedarft verwendet, also wenn kein Bedarf besteht. Das Verständnis für die korrekte Biegung ist ja auch bei mir mit der Zeit gewachsen, ich will nicht behaupten, dass ich es von Anfang an richtig gemacht habe. 

AK: Wir müssen aufpassen, dass alle Lernenden auch Lernende sein dürfen. Natürlich wünschen wir uns kein Überbiegen, aber beim Finden des Mittelwegs müssen ja auch Irrtümer passieren dürfen, damit man auch lernen kann. Wir müssen finde ich, davon Abstand nehmen, ständig Endprodukte zu erwarten. 

BB: Diese Erwartungshaltung kommt dem Lernen eben auch nicht entgegen. Hand und Sitz, sowie sämtliche weitere Hilfengebung kann das Pferd nur auffordern sich zu biegen, tun muss es aber die Muskulatur des Pferdes. Erzwungene Biegungen werden aber immer falsch – und da ist möglicherweise oft die Erwartungshaltung im Weg. 

Was kann man gegen einen losen Hals machen, wenn der Hals gebogen ist, der Rest des Körpers aber nicht in der Biegung mitkommt?

AK: Das Pferd muss so weit im Hals gerade gestellt werden, bis die Biegung des Halses zur Körperbiegung passt. Wenn im Rumpf bisher gar keine Biegung vorhanden war, dann darf ein stärkeres Einwirken am Kopf, was mit einer übermäßigen Halsbiegung korrespondiert, nicht die Lösung sein, weil sich das Pferd über das zu starke Biegen des sehr beweglichen Halses einen Ausweg sucht.  

BB: Spürbar wird das Phänomen, wenn die Parade im Hals verloren geht und sich nicht über die weitere Wirbelsäule überträgt. Das gleiche gilt bei einem zu steifen Hals, wo eine Parade das Pferd auf die Schultern drückt und nicht auf die Hanken wirkt. 

Und was soll korrekterweise bei der Parade passieren?

BB: Die Parade ist nicht das, was die Hand macht, sondern das was das Pferd macht. Wir wollen das Pferd auffordern die Hanken zu biegen, ohne den Vorgriff der Hinterhand zu verlieren. Daher ist die anfängliche Ausbildung und Formgebung der Wirbelsäule ja so wichtig, sonst wird man das Pferd durch die Einwirkung der Reiterhand aus der Biegung werfen oder das Pferd sogar auf die Schultern drücken. 

AK: Wir unterscheiden weiters zwischen horizontaler und vertikaler Biegung, sowie der Beugung der Gelenke. Mir persönlich ist es wichtig, die Qualität der Biegung durch Paraden in Bewegung zu überprüfen. Messbar wird das durch den Bewegungsfluss, den Vorgriff und die Analyse, wo Last gut aufgenommen wird und wo das Pferd versucht auszuweichen? Auch Takt und Rhythmus spielen hier eine große Rolle. 

Seht ihr viele verbogene Pferde und woran könnte das liegen?

BB: Wir sehen verbogene und durch die natürliche Schiefe ungebogene Pferde. Das eine sind Fehler, die im Lauf der Ausbildung entstanden sind und ungebogene, junge Pferde, die Biegungen überhaupt erst lernen müssen. 

AK: Ich sehe im Unterricht sowohl verbogene, als auch steif gerittene Pferde – und beides liegt wohl daran, dass wir eben lernen (müssen). 

Annika Keller auf ihrem hübschen „Casanova“

Die HDV 12 rät, junge Pferde nur ein Jahr lang geradeaus vorwärts gehen zu lassen. Was meint ihr dazu? 

BB: Was heißt gerade? Gerade im flachen Gelände – da stimme ich zu, so haben wir das auch viele Jahre auf Island gemacht, um die Pferde auf langen Ritten an den Reiter zu gewöhnen – aber nur in kurzen Dosen. In unseren modernen Hallen mit vier Kurven geht das aber nicht – man muss ja schließlich durch die Ecken. Und unphysiologisch ein Jahr lang auf den Schultern durch die Ecken zu reiten, halte ich für keinen guten Ratschlag, denn die meisten Pferde würden wohl ein Jahr lang auf die Schultern fallen und steif werden.  Wenn man aber in der Zeit zurückdenkt, machte der Ratschlag ja für das Gelände und die Gebrauchsreiterei durchaus Sinn, allerdings wurde hier in kurzen Reprisen gearbeitet. 

AK: Lange gerade Strecken können Vorwärtsdrang des Pferdes fördern. Im begrenzten Viereck muss man darauf achten, das Pferd nicht zu versteifen und schon vorzeitig Gelenke und Rücken zu verschleißen. 

Was sind die häufigsten Fehler beim Biegen aus der Sicht des Reiters? 

BB: Zwischen Genick und Hals entsteht ein Zickzack: Der Hals ist nach links gebogen, die Stellung im Genick aber nach rechts. Dann gibt es das Verwerfen im Genick, oder wenn die Position des Kopfes und Brustkorbs nicht übereinstimmen, auch das sind häufige Fehler. Alle fehlerhaften Biegungen werden durch die Reiterhand ausgelöst. Prinzipiell muss die Biegung aus der Tätigkeit der inneren Hüfte des Pferdes kommen. An sich Fehler, die schwer vermeidbar sind, da wir ja irgendwo anfangen müssen und nicht alle Pferde von vornherein von hinten gearbeitet werden können. Daher können wir in der Bodenarbeit dem Pferd einen guten Weg zur Biegung am Kappzaum zeigen. 

AK: Stärkeres Einwirken mit der Hand kann einfach keine Rumpfbiegung auslösen. Der Reiter hat das korrekte Einwirken wahrlich in der Hand, oder eben nicht! 

Abgesehen von der Hand, welche häufigen Fehler passieren im Sitz? 

BB: Der Mensch versucht nach links zu stellen, sitzt aber nach rechts. Es gibt nur eine Wirbelsäule, der wir Mitteilungen geben können, wenn sich Sitz und Hand widersprechen hat das Auswirkungen auf Schwung, Form, Statik….

AK: Immer wenn der Reiter das Pferd quasi von sich weg schiebt, beispielsweise im Linkstravers stark nach rechts sitzt, dann läuft das Pferd der Biegung davon, anstelle sie durch den Sitz zu empfangen. 

Die meisten Pferde machen im Grunde nichts falsch, sie reagieren nur auf das, was wir falsch machen! 

Vielen Dank für das Gespräch

Die Logik hinter den Biegungen zum Weiterlesen

Die Autoren der Logik hinter den Biegungen

Bent Branderup war langjähriger Schüler der Escuele Andaluza del Arte Equestre in Spanien, lernte bei Nuno Oliveira in Portugal und bei Egon von Neindorff in Deutschland. In Alvesloe bei Hamburg erteilte er über viele Jahre Unterricht und gab Seminare in fast allen europäischen Ländern. Heute lebt er in Dänemark und leitet dort die Schule für Akademische Reitkunst www.bentbranderuptrainer.com 

Annika Keller ist lizensierte Bent Branderup Trainerin, sowie Pferdephysiotherapeutin und Osteopathin. Annika Keller gibt europaweit Kurse mit Schwerpunkt „Natürliche Schiefe“. Mit dem „Equestrian Movement Concept“ hat sie ein erfolgreiches Jahresprogramm mit Osteopathie für Mensch und Pferd, Bewegungstraining für die Reiter und Akademischer Reitkunst für Pferd und Reiter konzipiert. www.annikakeller.de