Womit fängt man an? 

In der letzten Theorieeinheit am Sonntag beim Seminar in Niederösterreich Ende April erklärt Bent Branderup noch einmal, warum wir nicht mit der Primärhilfe in der Ausbildung beginnen, sondern den „Umweg“ über die Sekundarhilfen auf uns nehmen müssen. 

„Wir haben heute keine Lehrpferde, die unseren Sitz schulen können. Wir müssen die Sekundarhilfe zuerst den Pferden und den Menschen vom Boden aus beibringen“. 

Bent Branderup

Für die Elite? 

Bent Branderup taucht wie immer ein, in die Geschichte der Reitkunst. Früher war die Akademische Reitkunst etwas für Eliten. Sie wurde an den höfischen Reitakademien gelegt, sie war an die Universitäten angeschlossen und die ritterlichen Reitakademien. 

Für die ritterlichen Reitakademien waren die Qualifikationen: Männlich, katholisch und adelig. Das heißt aber nicht, dass man die reiterlichen Fähigkeiten mitbrachte. Heute bin ich unterwegs und staune, welches Wissen sich viele Reiterinnen und Reiter aneignen. Im Gegensatz zu den alten Reitakademien haben wir den Vorteil, das wir nicht fertig werden müssen. 

Nicht fertig werden? 

Ein Raunen geht durchs Publikum. Hat er tatsächlich gesagt, wir müssen nicht fertig werden? 

Richtig, denn früher mussten die Pferde für einen bestimmten Zweck ausgebildet werden. Allerdings konnten sich die Könige von einst ja auch leisten, jahrelang das Pferd in Ausbildung zu geben. 

Bent erzählt nun von Aufzeichnungen aus königlichem Stallinventuren aus dem Jahr 1698, die er durchforstet hat. 

Mit 4,5 Jahren kamen die jungen Pferde ins Gestüt. Wurden dann angeritten und haben die Ausbildung begonnen. Zwischen 12 und 16 Jahren waren die Pferde in der Kür und gingen dann in den Stall des Königs über, wo sie dessen Gebrauchspferde wurden. Nach 10 Jahren im Dienste des Königs kamen die nun rund 25 Jahre alten Hengste in die Hofreitschule, wo sie den jungen Eleven den Reitersitz lehrten. Ein junges Pferd war also mindestens 6 bis 8 Jahre lang in Ausbildung, bevor es quasi in die Nutzung kam. 

Befrei dich vom Zwang

Wir müssen heute nicht fertig werden. Wir haben den Zeit und Luxus, uns im Detail verlieben zu dürfen. Wir können uns eben diese Details aneignen und die Fähigkeiten des Reiters durch die Ausbildung in den Vordergrund stellen. Gerade Pferde, die wir heute als schwierig erachten, schulen uns durch die verschiedenen Facetten der Bodenarbeit prächtig. 

Von einem etwaigen Problem in die Praxis: Ein Pferdebein, das sich in der Luft befindet, kann keinen Widerstand leisten. Daher können wir im Stehen exakt überprüfen, ob ein Pferd eine Hilfe, wie etwa eine Parade auch tatsächlich verstanden hat. Der Widerstand kann sich darin äußern, dass Spannungen im Pferdekörper vorhanden sind – mentaler und physischer Natur. Viele unserer Hilfen sind natürlich darauf bedacht, überhaupt keinen Widerstand zu haben. 

„Wenn das Pferd steht, dann zeigt sich ob das Pferd die Hilfe tatsächlich verSTEHT“. 

Bent Branderup

Diese detailverliebte Arbeit wird von Vorteil, wenn der Reiter viel über Hilfengebung und Sitz lernen kann. In der Bewegung kommt dann noch Schwung dazu. Im Stand entwickeln wir Reiter jedoch ein präzises Gefühl für die Gewichtsverteilung auf den vier Pferdebeinen. Gleichmässig? Immer zu einer Seite hin verschoben? Kann das Pferd ein Hinterbein etwa gar nicht belasten und weicht mit der Hinterhand aus? Somit lässt sich laut Bent Branderup schon im Stand überprüfen, ob das innere Hinterbein später im Galopp zum Tragen kommen wird – oder eben nicht. 

Die Luxus-Longe

Bent erzählt von seiner eigenen Ausbildung. Bei den verschiedensten Lehrmeistern oft Tage- oder Wochenlang an der Longe zu reiten war Luxus, allerdings ist das heute auch ein nicht leistbarer Luxus. Denn wer hat heute noch eine Hofreitschule? 

„Früher schon kostete es ein Vermögen, geschulte Reiter auszubilden. An den Reitakademien bekamen die Professoren für Reitkunst übrigens die höchsten Gehälter. An der Uni Göttingen verdiente ein Reitkunst Professor das doppelte und in Dresden das Fünfache im Vergleich zu einem Professor für Architektur.“

Bent Branderup

Wir müssen heute also andere Wege finden, um Reiter auszubilden. Und eine Möglichkeit, die Bent hier nennt, ist sich selbst zu longieren.  

Bent Branderup erklärt, dass die akribische Ausbildung auf dem Zirkel vor allem für den Reiter dienlich ist. Dieser kann sich auf viele Details im eigenen Körper konzentrieren. Wir können uns an der Longe vorstellen, wie es sich anfühlen müsste. So können wir langfristig unser Gefühl dahingehend schulen, um später zu beurteilen, was etwas der bessere und was der schlechtere Schritt war. Wie hat sich die Gangart angefühlt? 

Das Richtige muss verstanden werden gegenüber dem Falschen. Oder das Bessere gegenüber dem nicht ganz so Guten. Wie fühlt sich das an und wie sieht es aus? Was man zuerst in der Bodenarbeit sehen kann, nimmt man später durch die ausführliche Schulung des Gefühls mit in den Sattel. 

So nehmen wir eine laterale Verschiebung oder eine diagonale Verschiebung im Schritt unter uns war. Bei der lateralen Verschiebung bewegt sich das Pferd passartig, bei der diagonalen Verschiebung eher in Richtung Schulschritt. 

Ein einmal geschultes Gefühl bleibt dem „Sitz“ haften. 

So erzählt Bent Branderup von seiner Zeit auf Island und den unterschiedlichsten Tölt-Kulturen, denen er später begegnete. 

„Ich habe ein Jahr lang auf Island mit Pferden gearbeitet. Wir haben Pferde oder auch Schafe getrieben. Daher kann ich heute den Islandpferdereitern sagen, wenn man mit dieser Reitweise keine Schafe mehr treiben kann, dann habt ihr eure Kultur verloren. Wenn man Tölt nicht mehr im schwierigen Gelände reiten kann, dann bin ich uneinig wenn man heutige Töltinterpretationen nur mehr auf festgebügeltem Boden reiten kann. 

Wir haben verschiedene Interpretationen. Tölt hat man in der Südamerikanischen Tradition sicherlich anders definiert als in der Isländischen. Und genau so ist es mit anderen Dingen. Die großen Meister der Akademischen Reitkunst waren auch Vorbild für die HDV12. Aber man muss wissen, dass Steinbrecht nie ein Gebrauchspferd ausgebildet hatte. Steinbrecht hat Zirkuspferde ausgebildet. Um ein solches Pferd zu erwerben, musste man sich erstmal bewerben – und das taten die Leute sogar aus den USA“. 

Bent Branderup

Bent Branderup zeigt den Weg von Gustav Steinbrecht. Dieser war Schüler von Luis Seeger und dieser wiederum Schüler von Max Ritter von Weyrother, seines Zeichens Oberbereiter der Spanischen Hofreitschule in Wien. 

Als dann später die HDV12 entwickelt wurde, kamen die besten Reiter ihrer Zeit zusammen und haben eine Reitweise „gebastelt“, die eine Anleitung bieten sollte, wie man so rasch wie möglich ein gutes Gebrauchspferd ausbildet. Allerdings war das Problem: 

Minimalismus

Minimalismus ist ein Privileg der Meister. Warum das so schwierig ist, erklärt Bent Branderup am Beispiel von Stellung und Biegung. 

Der Anfänger muss zu Beginn etwas übertreiben, damit man überhaupt sehen kann, ob das gewünschte Ergebnis da ist. Eine ganz leichte Stellung und Biegung ist schwieriger wahr zu nehmen. Man kann zu Beginn in der Übertreibung leichter sehen, ob das Genick im Konter zur Schulter steht, oder der Hals an den verschiedensten Stellen verbogen ist. Zunehmend entdeckt der Reitschüler dann, was übertrieben war und wo man reduzieren kann. Das gilt für viele Dinge. 

Zuerst müssen wir wahrnehmen können. Seitwärts ist auch nicht unbedingt gleichzusetzen mit guter Qualität von Seitwärts. Dafür brauchen wir aber auch eine Grundidee von Biomechanik aus der Theorie. Diese ist die Basis, um zu verstehen, was unser Pferd so besonders macht. Hat das Pferd Probleme mit den Knien? Hat es Probleme in den Sprunggelenken? Bewegen sich die Hüftgelenke in eine falsche Richtung? Gibt es gar Probleme im Rücken. 

Zuerst steht also immer die Analyse und dann einen Inhalt für unser Pferd. Wir müssen unserer Reise damit beginnen, was das Pferd kann. Wenn wir also zu Beginn sehr ruhig reiten, dann haben wir Zeit zu spüren und setzen das Pferd nicht starken Kräften der Beschleunigung und Entschleunigung aus. Wir erinnern uns an dieser Stelle an den ersten Theorieteil und die Probleme im Bereich des Schultergürtels. Wer mag kann nochmal hier nachlesen. 

Wir reiten zum Schutz unserer Pferde ruhig – später können wir mehr Energie hinzufügen. 

Jeder fängt als Anfänger an – aber nicht auf Facebook

Bent kritisiert die Unkultur in sozialen Medien, alles anzugreifen, was nicht perfekt ist. Das macht doch das Anfänger Dasein umöglich. Dabei kann der Anfänger doch noch gar nicht perfekt sein. 

Also nehmen wir uns die Ruhe, um unser Pferd zu analysieren. Wie fußen die Hufe auf? Was ist für die Gelenke gesund, was ungesund. Wenn das Pferd für uns nicht bequem ist zu sitzen, dann ist es für sich selbst nicht bequem. 

„Wir sind für dei Kunst zweckbefreit, aber leider auch zweckentfremdet. Deswegen reiten wir Lektionen nicht, damit das Pferd darin besser wird, sondern es ist wichtig, es ist wichtig, jede Lektion in ihrem Nutzen für das Pferd zu definieren. Nicht die Lektion muss besser werden, sondern das Pferd, dann war es richtig“

Bent Branderup

Schau in den Spiegel

„Wird eine Lektion nur dafür verwendet, um Leuten zu imponieren, die wir nicht mal mögen? Menschen verwenden das Geld, das sie nicht haben, um Dinge zu kaufen, die sie nicht brauchen, um damit Leuten zu imponieren, die sie nicht mal mögen. Wenn wir so reiten, dann muss man sich zwangsläufig fragen, warum wir überhaupt Pferde haben. Menschen spiegeln sich in den Augen von anderen Menschen. Klar hat man eine Freude daran, anderen zu imponieren. Das ist ziemlich menschlich. Daher mögen wir auch ein Pferd, das uns besonders gut aussehen lässt. Aber dann sollten wir uns fragen, was ist Verliebtheit? Wir reiten ja unseretwegen, wegen der guten Zeit mit dem Pferd“. 

Bent Branderup

Übung macht den Meister

Wenn wir üben, dann werden wir auch Fehler begehen. Das macht nichts, solange wir die Fehler erkennen und an ihnen wachsen. Wenn man in sozialen Medien andere Reiter ausrichtet, dann kann man sich dadurch besser fühlen – man wird davon aber nicht besser. 

Selbsterkenntnis ist die Grundvoraussetzung, um weiter zu kommen. Auf dem Weg zur Reitkunst muss man daher immer wieder die eigne Ist Situation von Mensch und Pferd analysieren. Was kann man gut, was kann man weniger gut? Wo gibt es Probleme? Woran kann man wachsen? Daraus definieren sich die Inhalte der Ausbildung für PFerd und Mensch. 

Die Sache mit dem Jonglieren

Wer Jonglieren will, fängt auch nicht mit vielen Bällen gleichzeitig an. So ähnlich ist es auch mit der Sekundären Hilfengebung. Wir lernen ein Set an Hilfengebung, aber wir müssen eine Hilfe nach der anderen hinzufügen und uns immer wieder fragen: Bringt diese Hilfe gerade etwas? Wer schon mal unterscheiden kann zwischen den Hilfen von Unterschenkel, Oberschenkel, der Einwirkung von Hand und Zügel, den Gewichtshilfen, dem physischen und statischen Sitz, der hat schon ziemlich viele Bälle in der Luft. 

Die gute Nachricht

Nicht Talent ist ausschlaggebend, sondern Leidenschaft. Wer mit Passion dabei ist, dem wird beim Üben nicht langweilig. Und man darf nicht vergessen – wir müssen nicht reiten – wir dürfen.