Mein Pferd schiebt so viel, mein Pferd ist mit den Hinterbeinen hinten raus? Oh mein Gott, die Hinterhand, mein Pferd hat so eine lange Standbeinphase…..

Diverse Reitschüler…

Wie ist das denn nun wirklich? Wann ist ein Pferd tatsächlich hinten raus und wie oft kommt das tatsächlich vor? 

Aber fangen wir systematisch an und gehen die Fragen Stück für Stück durch: 

  • Wann ist ein Pferd hinten raus? 
  • Wann ist ein Pferd „gut drunter“
  • Was bedeutet Schubkraft eigentlich wirklich? 

In den letzten Jahren hatte ich häufig auf so manchem Reitplatz das Gefühl beruhigend einwirken zu müssen, nämlich dann, wenn die Angst und Unsicherheit zum Thema Schubkraft und „hinten raus“ der Hinterbeine scheinbar übermächtig werden. 

Was soll ein Pferd mit den Beinen tun? 

Und da lohnt es sich einmal mehr beim guten, alten Steinbrecht im Gymnasium des Pferdes nachzuschlagen. Steinbrecht betont beim Anreiten des jungen Pferdes die Schubkraft in die natürliche Richtung zu entwickeln. 

Wie jetzt? Wir wollen Schub? Kurz gesagt: Ja. Und lang gesagt: Vielleicht hat Steinbrecht ein für unsere heutigen Köpfe falsches Wort gewählt. Falsch darum, weil wir heute unter Schubkraft mittlerweile ein Gefühl verstehen oder verbinden, wenn wir viel in der Hand haben und das Pferd die Reiterhand als fünftes, abstützendes Bein missbraucht. 

Was Steinbrecht jedoch meinte, war jedoch in allererster Linie die Gehlust des Pferdes zu fördern und dies in seiner ganz natürlichen Richtung zu entwickeln. 

Warum war ihm das so wichtig? Nun, die meisten Pferde werden unter dem Reiter auch bei bester Vorbereitung oder Umschulung am Boden zunächst mal verhalten antreten, für Steinbrecht ist ein zunächst nach vorne gelagerter Schwerpunkt also auch mehr zwischen den Schultern vertretbar, auch ist er damit fein, wenn die Pferde noch nicht bequem zu sitzen sind. 

Heute begegnet mir häufig der Wunsch, das Pferd von der Pike an perfekt auszubilden. Das ist auch lobenswert. Allerdings wird dann gerne in der Bodenarbeit oder vor dem Reiten schon sehr viel versammelt, auf ein frisches Vorwärts wird wenig Wert gelegt, wir sind voller Stolz, wenn „fancy shit“ gelingt. Dabei ist genau das Schlichte ebenso fancy, wenn es darum geht, den Gang des Pferdes zu fördern, indem wir große gerade Linien reiten und auch mal galoppieren: 

„Bei der Wahl der Gangarten richte man sich nach den durch Bau und Temperament bedingten Anlagen des Pferdes. Obgleich der Trab immer vorwiegend geübt werden muss, schließe man doch den Galopp keineswegs aus, da er ja eine ganz natürliche Gangart ist, die gerade die größere Schub- und Schnellkraft der Hinterbeine erfordert, weil sie ja sprungartig ist. Es ist daher eine übertriebene Sorgfalt, diese Bewegung als Übung ausschließen zu wollen, sobald es sich um Anregung und Entwicklung der vorwärts treibenden Kräfte der Hinterhand handelt. Wir finden auch durch die Erfahrung bestätigt, dass wir bei verhaltenden Pferden durch ausgiebige Übung in einem frischen Galopp viel leichter und schneller einen entschlossenen Trab ausbilden können, als durch einseitige, mühsame Trabübungen, weil sie durch die stärkere Wirkung der Schubkraft im Galopp weit eher veranlasst werden, die Anlehnung und damit die richtige Stellung von Kopf und Hals zu finden“.

Gustav Steinbrecht, Gymnasium des Pferdes, 1885

Was meint Steinbrecht also mit Schub? Steinbrecht geht ja in weiterer Folge in seinem Werk sehr deutlich auf die Entwicklung der Hankenbiegung ein, also der Biegung der Hinterhandgelenke. Wenn wir uns vorstellen, wir würden in einem Beugegang laufen und immer tiefer beugen, dann bleiben wir bald in der Energie stecken und das Vorwärts fällt uns, selbst auf zwei Beinen immer schwerer (oder gerade auf zwei Beinen). Wir brauchen also auch einen energetischen Abdruck vom Boden, so dass durch den Kontakt mit dem Boden Energie freigesetzt wird, die das Pferd nach vorne bringt. Diese Energie ist es, die letztlich mit der Schubkraft gemeint ist. 

Ohne Energie kann keine Übertragung der Kräfte vom Hinterbein über das Becken und den Rücken an die Vorhand weiter geleitet werden. 

Was wir also brauchen ist grundsätzlich 

  • Ein selbstverständliches Vorwärts
  • Das Gefühl im Trab und Galopp mühelos und zwanglos vorwärts zu kommen
  • Erst wenn diese Zwanglosigkeit ohne zu eilen hergestellt ist, kann mit der weiteren Ausbildung fortgeschritten werden. 

Aus der Praxis 

Warmblutstute Pina war sehr weich im Muskeltonus, als ich sie zu reiten begann schwankte sie zwischen den Vorderbeinen und ich hatte das Gefühl von Null Stabilität im Brustkorb. Pina war am Boden bis zu den halben Tritten schön ausgebildet, ihre übermässige Geschmeidigkeit machte es aber schwer, den Rumpf tatsächlich hoch zu bekommen. Wir haben das, was Pina bereits kannte und mitbrachte gut genutzt, also ihr Wissen rund um formgebende und seitwärts treibende sowie verwahrende Schenkelhilfen. Geholfen hat vor allem die Arbeit im Trab, wie auch im Galopp, weil sie hier einen besseren Muskeltonus bekam, vor allem durch Übergänge. Eilig wurde Pina zum Glück nur selten, aber ihr fielen vor allem Übergänge in der Richtung schwer, also sind wir viele Handwechsel geritten, haben ein bisschen Seitengänge dazu genommen, und vor allem Übergänge zwischen den Gangarten. Ihr Vorteil war ein sehr klarer Takt, eine tolle Selbstständigkeit im Vorwärts, eine gewisse Gehlust und ein klares Bild von Vorwärts. 

Der Vorgriff passt, Tabby wird vom stehenden Hinterfuß im Rumpf angehoben, weil sich die Kraft vorwärts aufwärts überträgt. Das Vorderbein fußt da auf, wo die Nase hinzeigt.

Lipizzaner Konrad liebt die Statik. Er macht sich gerne über Levaden groß und findet alles, wo gebeugt wird toll. Allerdings hatte er wenig Kraftabdruck in der Bewegung generiert. Während er immer tiefer beugte, verlor er immer mehr an Energie. Zurück zur Basis, frisches Vorwärts und ganz viele Geländeritte haben geholfen, die Kraftübertragung nach und nach zu fördern. 

Lusitano Mandrake mag es rasant. Wenn Steinbrecht also sagte. Reite die Hinterbeine des Pferdes nach vorne und richte es gerade, im Zusatz aber betonte, das Pferd ja nicht eilig werden zu lassen, dann hat er vielleicht ein Pferd wie Mandrake beschrieben. Mandrake wurde in der Eile etwas schwer und steif in den Schultern. Daher war es notwendig, ihm Ruhe zu vermitteln, also auch verhaltende Hilfen beizubringen, diese aber nicht zu stark zu dosieren, denn gleichzeitig war es ja auch wichtig im vortreibende Hilfen zu erklären, die mir vom Sattel aus immer das Gefühl geben sollten, Mandrake vor mir zu spüren, jedoch nicht 3 Pferdelängen vor mir, sondern mit dem guten Gefühl, 2/3 des Pferdes vor mir und an den Hilfen zu haben. Auch hier haben Übergänge geholfen, Handwechsel, Bahnfiguren und die Formgebung vor allem entstehen zu lassen. Ein riesiger Gamechanger war es auch, Mandrake mit Halsring alleine zu reiten und die verhaltenden Hilfen nicht zu stark über den Kappzaum mitzuteilen. Ganz individuelle Sache, aber ein Freigeist wie Mandrake hatte hier eben gerne auch möglichst viel Platz zur Entfaltung und zum Ausprobieren von Form. 

Übung und Wiederholung macht den Meister. Und so sagte Steinbrecht: 

„Die Schubkraft kann nicht geregelt werden, wenn keine vorhanden ist, und as Pferd kann nicht richtig gehen lernen, wenn es nicht geht. Wenn der Reiter das Übergewicht der Vorhand nach hinten verlegen will, so muss er doch eine Stütze haben, die er damit belasten kann, wenn es nicht nach Beendigung des künstlichen Hebens auf seinen früheren Stützpunkt, nämlich die Vorderbeine, zurückfallen soll. 

Das Belasten der HInterhand, mit anderen Worten das Sammeln des Pferdes, muss daher von hinten her beginnen, indem der Reiter durch doppelte Tätigkeit und Wachsamkeit seiner Schenkel die Hinterbeine zu lebhaften und entschlossenen Vorwärtsbewegungen anregt und sie dabei stets so gerichtet hält, dass sie gegen den Schwerpunkt der Gewichtsmasse wirken. Diese wird nun durch die Hand des Reiters zurück gehalten, die durch die Schubkraft allmählich erzeugte Vorwärtsbewegung also so eingeschränkt, dass die Hinterbeine sich unter dem Gewicht, das sie nicht mehr meistern können, biegen müssen. Die Hand darf dabei nicht einseitig zurückhalten, sondern muss die Gleichmässigkeit des Ganges durch rechtzeitiges Nachgeben fördern und die richtige Folge der Hinterbeine durch geschickte Führung unterstützen, indem sie durch entsprechende Seitenbiegung die Hinterbeine am Ausweichen hindert und bei schiefer Richtung des Pferdes die Vorhand der Linie der Hinterhand zuwendet.“

Wichtig ist also: Bevor wir an der Versammlung arbeiten, muss die Hinterhand mühelos vorwärts kommen. Wir denken also nochmal an die Aussage, dass die Schubkraft nicht geregelt werden kann, wenn keine vorhanden ist. 

Aber ist jetzt mein Pferd hinten raus? Fragt der ungeduldige Leser. 

Nun, wir haben eine Standbeinphase, eine Spielbeinphase. In jeder Phase passiert etwas. Das Hinterbein landet am Boden, drückt sich vom Boden ab, generiert dabei wieder Energie (denken wir an die Übertragung in den restlichen Pferdekörper) und federt schwungvoll vorwärts. 

Die Standbeinphase ist beispielsweise in einer Passage oder auch in einer Trabverstärkung etwas verlängert. Wenn wir hier vergleichen wird in der Trabverstärkung das Hinterbein etwas hinter die Sitzbeinhöcker des Pferdes zurück fallen, in der Piaffe wird die Standbeinphase auch kürzer sein, das Hinterbein wird in etwa unter der Hüfte mit dem Huf zu stehen kommen und nicht mehr weit in Richtung Sitzbeinhöcker zurück kommen. In der Pferdeausbildung brauchen wir einen breiten Rahmen, das heißt, wir dürfen alles, was vom Pferd von der Natur gegeben wurde in der Ausbildung nutzen, sowohl ein bisschen Rahmenerweiterung, wie auch ein bisschen Rahmenverkürzung, das ist vor allem für die Elastizität der Muskulatur, der Sehnen und Bänder notwendig. Denken wir daran, wir würden permanent eine einseitige Belastung trainieren, dann gewinnen wir zwar an Kraft auf der einen Seite, verlieren jedoch Kraft auf der anderen. Wir Freizeitreiter möchten aber ein möglichst vielseitiges Pferd. Eines, das sich gesund und kräftig unter uns tragen kann, ein Pferd, das sich aufgrund seiner Fähigkeiten stolzer und schöner fühlt, ein Pferd, das sich gemeinsam mit uns über seine Fähigkeiten freut und im Gelände ein verlässlicher Partner ist. Und der eine oder andere springt dann noch gerne über einen Baumstamm. Auch okay. 

Denken wir an die Wachablöse der Garde vor dem Buckimham Palace in England. Wenn wir mit dem Pferd quasi wie im Paradeschritt unterwegs wären, also keine Standbeinphase in Richtung Sitzbeinhöcker zulassen, dann wird Bewegung einseitig. Für ein gesundes Fasziensystem brauchen wir aber die Vielseitigkeit und möglichst viel Varianz. Deswegen ist unser bester Trainingspartner auch das Gelände und ganz viel Abwechslung. 

Wie vielen Pferden bin ich tatsächlich begegnet, die komplett hinten raus waren? Tatsächlich sehr, sehr wenigen. Natürlich wird das Pferd zu Beginn der Ausbildung mehr Gewicht auf die Vorhand legen. Das ist kein Geheimnis und das wusste auch Steinbrecht. 

Das, was Steinbrecht jedoch auch betonte: Das ist am Anfang völlig okay. Davon werden unsere Pferde nicht sofort kaputt. Wir dürfen uns entwickeln. Häufig denke ich, ist die Panik vor dem „hinten raus“ so groß, dass wir am liebsten sofort auf Gymnasiasten reiten und die Grundschule der Pferde komplett außen vor lassen, auch wenn wir viel Zeit in der Bodenarbeit verbringen. 

Wir brauchen Bewegung um Bewegung auszubilden und zu schulen. Das Pferd wird nach der Standbeinphase einen Vorgriff haben, wieder aufkommen und etwas zurück schieben. Sind Vorgriff und Rückschub annähernd ähnlich – super.

Möglicherweise habe ich aber weniger Vorgriff – Konrads Hinterbeine kamen beispielsweise nicht so weit nach vorne, das führte auch dazu, dass er den Rücken im Vorwärts nicht gut mitnehmen konnte und mir und sich selbst unbequem auf die Schultern fiel. 

Keine Panik vor dem Rückschub und dem hinten raus. Das wird schon. Wichtig ist zu wissen: 

Wie ist die Tonisierung der Muskulatur? Ist sie eher weich, dann gerne durch Übergänge, durch etwas mehr Rahmenerweiterung Tonisierung ins Pferd bringen. Ist sie stark tonisiert, dann kann eher in kleinen Gängen gearbeitet werden, auch mal mehr Geschmeidigkeit durch Seitengänge und dann immer wieder überprüfen. 

Und vergessen wir nicht: Der Titel von Steinbrecht ist wohl gewählt – das Gymnasium des Pferdes – aber vergessen wir nicht – dort fängt die Ausbildung nicht erst an, dort hört sie – wenn man das überhaupt so sagen kann, denn wir lernen ja nie aus – also dort findet sie ihren Abschluss, Matura, oder Abitur, wenn wir so wollen. 

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