„Wer heilt, hat Recht.“ Meine Güte, wie mir dieser Satz immer wieder kalte Schauer über den Rücken jagt, wenn ich ihn in sozialen Medien lese, wo häufig ja heftig über diverse Reitweisen debattiert wird. Ganz oft kommt hier auch zur Sprache, dass Reitkunst ja dann richtig sein muss, wenn sie Pferde eben gesund macht.
Grundsätzlich – ja natürlich, wie bei einer guten Physiotherapie ist es das Ziel Bewegungen zu verbessern und dem Betroffenen wieder Bewegungsfreude zu geben. Ich selbst habe zwei Bandscheibenvorfälle und etliche Wehwehchen, natürlich bewege ich mich und ich profitiere immer von der Physiotherapie – aber kann man generalisieren Recht zu haben, kann Reitkunst wirklich heilen?
Die mentale Heilung
Aus meiner Praxis kann ich folgende Situation berichten. Ich komme zum ersten Mal zu einem Schüler, das Pferd ist bereits älter, es hat einige Erfahrungen und auch Befunde mitgebracht. Es fühlt sich in seinem Körper sichtlich nicht mehr wohl. Wir beginnen also mit der Bodenarbeit.
Der schwierige Teil: Schüler holen mich natürlich zu sich, weil sie um ein Problem wissen. Sie fühlen und sehen die Schwierigkeiten des Pferdes, sie möchten dem Pferd gerne etwas gutes tun. Allerdings ist es auch schwierig, seinen Blick nicht immer auf die Problemzonen des Pferdes zu legen. Pferde sind mehr in ihrem Körper, als wir selbst, ständig den kritischen Blicken des Zweibeiners ausgesetzt zu sein, ist aber auch emotional für Pferde eine große Belastung.
Gerade wenn Pferde einige Erfahrungen unter dem Sattel mitgebracht haben, die mit Schmerzen, Ausgleichsbewegungen etc. verbunden waren, ist die „Verhaftung“ im Schmerzgedächtnis natürlich groß. Was hier wirklich vielen Pferden hilft, ist die Bodenarbeit. Wir lenken dadurch nicht nur die Gedanken des Zweibeiners häufig auf ein komplett neues „Fach“, auch für das Pferd birgt der Neustart eine wunderbare Chance.
Wenn Pferd und Mensch gemeinsam auf Entdeckungsreise gehen, die einzelnen Hilfen neu aufdröseln und eine gemeinsame Kommunikation entdecken, dann fügen sich auch viele positiv besetzte Emotionen in den Reigen ein. Der Zweibeiner freut sich, weil er nun auch verschiedene Probleme im Bewegungsablauf nicht nur diffus spürt, sondern nun auch sehen und benennen kann. So wird beispielsweise eine Überlastung einer Struktur, wie etwa der Vorhand schnell gesehen und kann auch ganz einfach vom Boden aus korrigiert werden. Für das Pferd bedeutet diese kleinschrittige Vorgehensweise auch immens viel Feedback – im Regelfall positives Feedback, wenn eben eine Bewegung besser ausgeführt wird. So wächst auch das Selbstbewusstsein beim Pferd, das davor häufig mit dem Gefühl zurück gelassen wurde, ohnehin nichts zu können. Für den Zweibeiner erschließt sich auch leichter, warum sich das Pferd wie bewegen sollte, welche Hilfen und vor allem welches Timing es noch besser unterstützen können.
Ich denke hier an Pferde mit Kissing Spines, Probleme im Bewegungsapparat, Steifheit oder Arthrosen, die durch die Bodenarbeit wieder Vertrauen in ihren Menschen, in sich selbst und in ihre Fähigkeiten bekommen haben. Schritt für Schritt konnte so auch eine mentale Heilung voran schreiten. Das wichtigste ist immer der Glauben an sich selbst und an seinen eigenen Körper.
Die physische Heilung
Wir können, je besser wir über die Bewegungskonzepte unseres Pferdes bescheid wissen auch unsere Tierärzte, Ostheopaten usw. unterstützen. Eine Schülerin aus meinem Online Kurs war beispielsweise durch ihr geschultes Auge auf eine Ungereimtheit in der Bewegung ihrer Stute gestoßen. Es gab keinen deutlichen ersten Befund, aber sie blieb dran und ließ sich von Tierärzten nicht abwimmeln – wir können mit unseren Pferden nur dann gesund arbeiten, wenn wir von unseren Tierärzten das GO bekommen, andererseits hilft die Kenntnis über unser Pferd enorm, wenn wir darauf pochen können, dass hier etwas „nicht stimmt“.
Mit meinem Konrad, der sich leider 2018 in seiner Box so verlegt hatte, dass er sich rechts vorne verletzt hatte, bin ich auch den Weg von der klassischen Lahmheitsdiagnostik bis hin zum Röntgen (ohne Befund) zum exakten MRT Befund gegangen. Jetzt weiß ich was los ist – zum Glück keine große Sache, dafür aber ein paar „kleine“ Befunde, die aber bei einer akuten Verletzung schon mal den Bewegungsapparat durcheinander bringen können. Ich bin froh, dass ich und mein Tierarzt, der Konrad auch sehr gut kennt so stur geblieben sind – das gibt Sicherheit im weiteren Training, lässt mich aber auch mit Rückschlägen rechnen, aber ich kann auch die Belastung, die ich Konrad zumute dementsprechend anpassen.
Konrad hatte genug Zeit, die Causa auszuheilen, ich muss an dieser Stelle noch einmal die mentale Komponente ins Spiel bringen – auf „Ruhe“ und Nichtstun beschränkt, war Konrad doch sehr unleidig und richtig froh, wieder etwas mit mir unternehmen zu können – einmal mehr unterschätzen wir nicht die Freude, die unser Pferd empfindet, wenn es etwas tun kann, wenn es etwas unternehmen kann, wo es sich stolz und prächtig fühlt – manchmal kann das aber auch ein Hindernis sein, wenn Pferde sich über ihre Grenzen verausgaben.
Grenzen der Kunst
Es gibt immer Grenzen der Kunst. Ich habe mich oft gefragt, ob ich bei Tabby noch mehr tun hätte können. Ich konnte nicht. Ihr Fessegelenk war förmlich nach einer Zusatzverletzung auf das von einem Knochenmarksödem geplagte Gelenk ineinander zusammen gefallen. Es gibt Befunde, da kann die Reitkunst nicht mehr heilen, da kann die Reitkunst nichts mehr beschönigen.
Was ich an dieser Stelle auch sagen möchte – das Pferd zeigt es nicht immer so deutlich. Auf diesem Bild sieht man Tabby wenige Tage vor unserem Abschied.

Und so begrüßte sie mich in den Tagen davor jeden Abend. Ihr Blick schien wie immer. Manche Pferde sind extrem hart im Nehmen – so wie eben meine Trakehnerstute, von deren Rasse man auch nicht umsonst sagt, dass man ihnen quasi ins Bein schießen kann und sie laufen trotzdem noch weiter. Ich hatte an Tabbys linker Schutergliedmaße ein erhebliches Abmuskeln entdeckt – ansonsten war sie im Gangbild nicht mal so schlecht, wie die letzte bildgebende Befundung vermuten ließ. Natürlich hätte ich sie weiter hinsichtlich Kraft und Lastaufnahme auf der Hinterhand trainieren können, um die erkrankte Vordergliedmaße zu entlasten. Aber das Bild der Muskulatur sagte mir ganz deutlich: Da stimmt was nicht. Die Reitkunst hat ihre Grenzen. Und diese gilt es zu berücksichtigen.
Zu sagen: Das Pferd ist ja munter und froh – das kann manchmal unser Bauchgefühl beruhigen und die unbequeme Wahrheit aufschieben, wahr ist es dennoch nicht und hier liegt unsere ganz große Verantwortung, deren Schultern für uns nicht immer einfach ist.
Reitkunst für das Pferd
Wenn Reitkunst unserem Pferd gut tun soll, dann heißt es immer für das Pferd zu reiten. Das fängt beim Jungspund an, wenn wir bemerken, dass das Pferd ins Stolpern kommt, die Formgebung nicht mehr halten kann etc. Das junge Pferd kann uns noch nicht ausdauernd tragen – auch wenn wir es gut meinen, die Form korrigieren – das Pferd muss eine entsprechende Kondition entwickeln. Wollen wir dem Pferd gut tun, dann steigen wir im Zweifel lieber ab.
Unser Ego spielt auch eine große Rolle. Achtung, jetzt wird es unbequem. Manchmal geht es nicht weiter. Meine Pina hatte sich etwa im Jährlingsalter nachhaltig am Becken verletzt. Sie war immer mein Fels in der Brandung, hat mit mir auch viele Auswärtslehrgänge gemeistert und mir und vielen Menschen unheimlich viel beigebracht. Ich war eine Zeit lang auch davon besessen, die Hankenbeugung weiter zu entwickeln, da sie dadurch auch wirklich stark profitiert hat. Aber an manchen Tagen sagte sie deutlich, zu meiner großen Überraschung „Nein, mehr kann ich nicht“. Ich war deswegen überrascht, weil Pina eigentlich immer eher Ja sagte und auch eher über ihre Grenzen ging. Ich habe damals entschlossen, dass es Zeit war für Pina, in Kurspension zu gehen, was natürlich auch bedeutetet, dass ich mit ihr nicht weiter an neuen Inhalten oder schweren Lektionen arbeiten wollte.
Sie weiß heute noch, wie man piaffiert und levadiert, wir holen das auch manchmal noch hervor und ich merke, dass sie sich stolz fühlt, wenn sie ihren Professorentitel nachhaltig unter Beweis stellt – aber wir trainieren nicht mehr täglich -dafür genießt Pina die täglichen Galopprunden mit meinem pensionierten Vater, der ebenso mit ihr den „Unruhe“stand genießt.
Wir können uns also einigen: Die Reitkunst kann sehr viel für das Pferd. Richtig angewandt kann sie Physiotherapie, Mentaltraining und auch wichtiger Aufdecken sein – wie viele Schüler sind so auch durch ihre eigene Ausbildung dran geblieben, haben Tierärzte noch intensiver konsultiert, weil sie auch durch den eigenen Weg ein besseres Bewegungskonzept für ihr Pferd gelernt hatten und auch deutlich sehen konnten, wenn sich etwas in eine unrichtige Richtung entwickelte.
Aber manchmal sind eben Grenzen gesetzt – Wer heilt hat recht – über diesen Satz kann man wirklich lange nachdenken. Weil der Satz irgendwie den Anspruch erhebt, immer recht zu haben und immer weiter machen zu können. Wer heilt, weiß aber auch, wann es genug ist, das möchte ich gerne hinzufügen.
Webinar zum Nachschauen:
Vor einigen Jahren habe ich ein Webinar gegeben mit einigen Rehafällen als Beispiele. Du kannst dir hier auch noch das Webinar nachsehen
Zum Weiterlesen
💡 Buchtipp: Der Reiter formt da Pferd von Udo Bürger
💡 Blog: Wenn Pferde in die Jahre kommen
🎙️ Podcast: Wenn der Schmerz kein Training mehr zulässt
Letzte Kommentare